Angélique lauschte verwundert den Bekenntnissen des großen Jesuiten.
»Warum erzählst du das gerade mir, Raymond? Vielleicht bin ich eine jener Frauen, die .«
Der durchdringende Blick des Geistlichen kehrte zu ihr zurück. Er schien sie zu prüfen, dann schüttelte er den Kopf.
»Du, du bist wie der Diamant«, sagte er, »ein edler, harter, unnachgiebiger Stein ... aber schlicht und durchscheinend. Ich weiß nicht, was für Fehler du im Lauf jener Jahre begangen hast, in denen du verschollen warst, aber ich bin überzeugt, daß du, wenn du sie begangen hast, sehr oft nicht anders handeln konntest. Du bist wie die wahrhaft armen Menschen, meine Schwester Angélique, du kennst die willkürliche Sünde nicht, jene Verderbtheit der Reichen und Großen .«
Naive Dankbarkeit erfüllte Angéliques Herz bei diesen verwunderlichen Worten, aus denen göttliches Verzeihen zu sprechen schien.
Die Nacht war still. Weihrauchduft schwebte in der Zelle, und der Schatten dieses Kreuzes, das zwischen ihnen beiden am Lager ihrer bedrohten Schwester wachte, wirkte zum erstenmal seit langen Jahren wohltuend und beruhigend auf sie.
In einer spontanen Bewegung sank sie auf den Fliesen in die Knie.
»Raymond, willst du mir die Beichte abnehmen?«
Im Hôtel du Beautreillis machte Marie-Agnès’ Genesung befriedigende Fortschritte. Indessen blieb das junge Mädchen wehleidig und für jegliches Scherzwort unzugänglich. Sie schien ihr kristallklares Lachen verlernt zu haben, das einstens den Hof bezaubert hatte, und sie zeigte sich ausschließlich von ihrer anspruchsvollen und launischen Seite. Anfangs bewies sie keinerlei Dankbarkeit für Angéliques Fürsorglichkeit. Aber nachdem sie wieder zu Kräften gekommen war und Angélique diesen Umstand nutzte, um ihr bei erstbester Gelegenheit eine gehörige Ohrfeige zu versetzen, fand Marie-Agnès, Angélique sei die einzige Frau, mit der sie auskommen könne. Sie hatte eine anmutige Art, sich schmeichelnd an ihre Schwester zu schmiegen, während man sich an den langen Winterabenden vor dem Kamin mit Mandolinenspiel und Stickarbeiten die Zeit vertrieb. Sie tauschten ihre Eindrücke von den Leuten aus, die sie kannten und sie besuchten, und da sie eine scharfe Zunge und einen regen Geist hatten, lachten sie zuweilen aus vollem Halse über ihre Feststellungen.
Eines Abend nahmen sie Philippe unter die Lupe. Der wunderliche junge Mann, der in seinen makellos hellen Atlasgewändern und mit seinem blonden Haar wie aus Eis geformt wirkte, war ein regelmäßiger Gast des Hôtel du Beautreillis. Er erschien in lässiger Haltung und sprach wenig. Beim Anblick seiner höhnisch-stolzen Schönheit fühlte sich Angélique immer wieder in das kleine Mädchen zurückverwandelt, das den eleganten Vetter zugleich gehaßt und bewundert hatte. Und immer, wenn sich seine hellen Augen auf sie richteten, wurde ihr deprimierend klar, daß dem jungen Mann ihre Schönheit noch nie bewußt geworden war. Er machte ihr auch nicht das banalste Kompliment, war wenig umgänglich, und die Kinder fürchteten ihn, statt sich von seinem Aussehen fesseln zu lassen.
»Du hast eine Art, den schönen Plessis anzuschauen, die mich beunruhigt«, erklärte Marie-Agnès. »Du, die du die vernünftigste Frau bist, die ich kenne, wirst ihm doch nicht verfallen, diesem ...?«
Sie schien nach einem lapidaren Ausdruck zu suchen, fand keinen und ersetzte ihn durch eine Grimasse des Abscheus.
»Was wirfst du ihm vor?« verwunderte sich Angélique.
»Was ich ihm vorwerfe? Nun, daß er so schön und verführerisch ist und dabei nicht einmal weiß, wie man eine Frau in die Arme nimmt. Zugegeben, nicht viele Männer verstehen sich darauf, aber jeder tut zumindest sein Bestes. Während Philippe es nicht einmal versucht. Er kennt nur eine Art, mit den Frauen umzugehen: Er vergewaltigt sie. Er muß die Liebe auf den Schlachtfeldern gelernt haben. Selbst Ninon hat da nichts auszurichten vermocht. Alle Frauen verabscheuen ihn in dem Maße, wie er sie enttäuscht.«
Angélique, die sich über das Kaminfeuer beugte, in dem sie Kastanien röstete, beunruhigte sich über die Unruhe, die die Worte der Schwester in ihr auslösten. Sie hatte beschlossen, Philippe du Plessis zu heiraten. Das war die beste Lösung, die, die alles ins Lot brachte und die Krönung ihres Aufstiegs und ihrer Rehabilitierung darstellen würde. Aber sie hätte sich gern Illusionen über denjenigen gemacht, den sie sich zum zweiten Gatten erwählt hatte, und über die Gefühle, die sie für ihn hegte. Sie hätte ihn gern »liebenswert« gefunden, um das Recht zu haben, ihn zu lieben.
Ein plötzlich in ihr aufkeimendes Bedürfnis nach Ehrlichkeit sich selbst gegenüber veranlaßt sie, am nächsten Tag zu ihrer Freundin Ninon de Lenclos zu eilen und ohne Umschweife das sie bewegende Thema anzuschneiden.
»Was denkt Ihr über Philippe du Plessis?«
Die Kurtisane legte nachdenklich einen Finger an die Wange.
»Wenn man ihn gut kennt«, erklärte sie, »merkt man, daß er viel weniger nett ist, als er aussieht. Wenn man ihn jedoch besser kennt, merkt man, daß er viel netter ist, als er aussieht.«
»Ich kann Euch nicht folgen, Ninon.«
»Ich will damit sagen, daß er keine der Eigenschaften besitzt, die seine Schönheit erwarten läßt, nicht einmal das Bedürfnis, geliebt zu werden. Andererseits, so man den Dingen auf den Grund geht, flößt er Achtung ein, weil er das Musterexemplar einer so gut wie ausgestorbenen Kaste darstellt: Er ist der Adlige par excellence. Er nimmt es in Fragen der Etikette peinlich genau. Er fürchtet einen Schmutzfleck auf seinem Seidenstrumpf Aber er fürchtet den Tod nicht. Und wenn er dereinst stirbt, wird er einsam sein wie ein Wolf und niemanden um Beistand bitten. Er gehört nur dem König und sich selbst.«
»Ich wußte nicht, daß er soviel Größe besitzt.«
»Aber Ihr seht auch seine Niedrigkeit nicht, meine Liebe. Die Erbärmlichkeit eines wahren Adligen ist erblich. Sein Wappen hat seit Jahrhunderten die übrige Menschheit vor ihm verborgen. Warum bildet man sich immer ein, eine Tugend und ihr Gegenteil könnten sich in ein und demselben Wesen nicht vereinigt finden? Ein Aristokrat ist zugleich groß und erbärmlich.«
»Und was hält er von den Frauen?«
»Philippe? Liebste, wenn Ihr es in Erfahrung gebracht habt, kommt und sagt es mir.«
»Es scheint, daß er furchtbar brutal mit ihnen verfährt?«
»Man sagt so .«
»Ninon, Ihr werdet mir doch nicht einreden wollen, daß er nicht mit Euch geschlafen habe!«
»Leider doch, meine Liebe, ich rede es Euch ein. Ich muß wohl oder übel zugeben, daß alle meine Talente bei ihm versagten.«
»Ninon, Ihr erschreckt mich!«
»Offen gestanden, er reizte mich, dieser Adonis mit den harten Augen. Man hat behauptet, er sei auf dem Gebiet der Liebe ungezügelt, aber ich scheue eine gewisse ungeschickte Leidenschaftlichkeit nicht, und es macht mir Vergnügen, sie zu disziplinieren. Ich nahm mir deshalb vor, ihn in meinen Alkoven zu locken .«
»Und?«
»Gar nichts. Vermutlich hätte ich mit einem vom Hof hereingeholten Schneemann mehr Glück gehabt. Er gestand mir schließlich, daß ich ihn absolut nicht reizte, weil er mir gegenüber freundschaftliche Gefühle hege. Ich glaube, er braucht Haß und Jähzorn, um sich in Form zu fühlen.«
»Er ist ein Narr!«
»Möglich . Oder vielmehr: nein. Er hinkt nur seiner Zeit nach. Er hätte fünfzig Jahre früher auf die Welt kommen sollen. Philippe! Wenn ich ihn sehe, werde ich ordentlich rührselig, denn er erinnert mich an meine Jugend.«
»Ninon, redet nicht wie eine Großmutter! Das steht Euch nicht.«
»Ich muß schon einen Großmutterton annehmen, um Euch ein wenig zu schelten, Angélique. Denn ich habe Angst, daß Ihr Euch verirrt . Angélique, Liebste, Ihr, die Ihr wißt, was eine große Liebe ist, werdet mir nicht sagen wollen, daß Ihr in Philippe verliebt seid! Er ist Euch viel zu fern. Er würde Euch mehr als jeder andere enttäuschen.«