Endlich tauchte Plessis auf, weiß und verwunschen am Rande seines Teichs. Es kam Angélique, die inzwischen die prunkvollen Residenzen von Chantilly und die Pariser Paläste kennengelernt hatte, kleiner vor, als sie es in ihrer Erinnerung sah. Einige Dienstboten fanden sich ein. Obwohl die Herrschaft sich nicht um ihr Provinzschloß kümmerte, befand es sich dank Molines’ Fürsorge in gepflegtem Zustand. Aber Angélique spürte nicht das erwartete Glücksgefühl. Vielleicht hätte sie in Tränen ausbrechen, vielleicht hätte sie einen Freudentanz aufführen und Florimond und Cantor abküssen sollen. Da sie all das nicht konnte, fühlte sie sich wie gelähmt.
Sie erkundigte sich nach dem Schlafraum der Kinder, kümmerte sich persönlich um deren Unterbringung und verließ sie erst, als sie, gebadet und frisch gekleidet, vor ihrem Milchbrei saßen.
Dann begab sie sich nach dem Zimmer im Nordflügel, das sie für sich selbst hatte richten lassen - das Zimmer des Fürsten Condé.
Sie mußte sich noch in Javottes Hilfeleistungen fügen und die Begrüßungen der beiden Diener erwidern, die Bottiche mit heißem Wasser in die anstoßende Badestube trugen.
Auf ihr ungehobeltes Französisch antwortete sie unwillkürlich in der heimatlichen Mundart, und sie sperrten vor Verwunderung Mund und Nase auf, als sie diese vornehme Dame aus Paris, deren äußerliche Aufmachung ihnen höchst extravagant vorkam, sich in ihrem Jargon ausdrücken hörten, als sei er ihr von der Wiege an vertraut.
»Es ist schon so«, sagte Angélique lachend zu ihnen. »Erkennt ihr mich nicht wieder? Ich bin Angélique de Sancé. Und du, Guillot, ich erinnere mich, daß du aus dem Dorf Maubuis in der Nähe von Monteloup stammst.«
Der Angeredete, mit dem sie vor Zeiten an schönen Sommertagen in Brombeeren und Vogelkirschen geschwelgt hatte, lächelte verzückt.
»Und Ihr seid das also, die unsern Herrn geheiratet hat?«
»Freilich bin ich das.«
»Oh, da sind wir aber alle froh. Wir haben schon ein bißchen Angst gehabt, wie die neue Herrin wohl sein würde.«
So waren also die Leute hierzulande nicht im Bilde. Oder vielmehr, was sie wußten, war irrig, denn sie glaubten, die Trauung habe schon in Paris stattgefunden.
»Schade, daß Ihr nicht gewartet habt«, fuhr Guillot fort, während er seinen struppigen Kopf schüttelte. »Das wäre eine schöne Hochzeit gewesen!«
Angélique wagte nicht, Philippe zu desavouieren, indem sie diesem gutmütigen Tölpel sagte, daß die Trauung hier stattfinden sollte und daß sie selbst sich auf die Lustbarkeiten freue, weil sie bei dieser Gelegenheit die alten Bekannten aus der Umgebung wiedersehen würde.
»Es wird trotzdem Festlichkeiten geben«, versprach sie.
Dann drängte sie Javotte ungeduldig, sich ein wenig zu beeilen, und als die kleine Zofe endlich gegangen war, sah sich Angélique in ihrem Räume um.
Die Einrichtung hatte in den vergangenen zehn Jahren keine Veränderung erfahren, aber Angélique sah sie nicht mehr mit den geblendeten Augen des kleinen Mädchens von damals und fand die schweren Möbel im holländischen Stil und das Bett mit den vier plumpen Säulen reichlich altmodisch. An das gepflegte Parkett ihres Zimmers gewöhnt, kamen ihr die mit Blumen und frischem Gras bestreuten Fliesen für eine zukünftige Marquise ein wenig bäurisch vor. Das Bild des Olymps an der Wand hatte seinen verwirrenden Reiz verloren.
Die junge Frau ging zum Fenster und öffnete es. Als sie sah, wie schmal der Sims war, auf dem sie sich damals so leichtfüßig bewegt hatte, erschrak sie. »Ich bin viel zu dick geworden. Nie im Leben komme ich bis zu dem Türmchen«, sagte sie sich verzweifelt.
Nach einigem Überlegen beschloß sie, Javotte zu holen.
»Javotte, mein Kind, du bist schmal, klein und geschmeidiger als ein Schilfrohr. Du wirst versuchen, auf diesen Sims zu steigen und bis zu dem Ecktürmchen zu gelangen. Gib acht, daß du nicht hinunterpurzelst, sei so gut.«
»Gern, Madame«, erwiderte Javotte, die durch ein Nadelöhr geschlüpft wäre, um ihrer Herrin einen Gefallen zu erweisen.
Aus dem Fenster gebeugt, beobachtete Angélique ängstlich, wie die Kleine sich entlang der Dachrinne vorwärts bewegte.
»Schau ins Innere des Türmchens. Siehst du etwas?«
»Ich sehe etwas Dunkles, einen Kasten«, erwiderte Javotte alsbald.
»Gut so. Nimm ihn heraus und bring ihn mir vorsichtig.«
Ein paar Augenblicke später hielt Angélique die Schatulle des Mönchs Exili in ihren Händen. Eine Staubkruste bedeckte sie, aber sie bestand aus Sandelholz, und weder Tiere noch Schimmel hatten ihr etwas anhaben können.
»Geh«, sagte Angélique mit ausdrucksloser Stimme zu Javotte, »und schwatze nicht über das, was du eben getan hast. Wenn du den Mund hältst, bekommst du eine Haube und ein neues Kleid.«
»O Madame, mit wem sollte ich denn schwatzen?« protestierte Javotte. »Ich verstehe ja die Sprache dieser Leute hier gar nicht.«
Sie hatte Paris ungern verlassen und gesellte sich nun zu Barbe, um sich mit ihr über gemeinsame Bekannte zu unterhalten, insbesondere über den Sieur David Chaillou.
Angélique säuberte indessen das Kästchen. Die verrostete Sprungfeder wollte nicht funktionieren. Endlich hob sich der Deckel, und die smaragdgrüne Giftphiole erschien, auf die Schriftstücke gebettet. Nachdem sie sie genugsam betrachtet hatte, schloß sie das Kästchen wieder. Wo sollte sie es bis zu Philippes Ankunft und zu der Stunde verstecken, in der sie es ihm im Austausch mit dem Trauring übergeben würde? Sie schob es in denselben Sekretär, aus dem sie es fünfzehn Jahre zuvor so impulsiv herausgenommen hatte.
»Wenn ich damals nur geahnt hätte .! Aber kann man mit dreizehn Jahren die Folgen seiner Handlungen ermessen?«
Als sie den Schlüssel des Sekretärs in ihr Mieder geschoben hatte, sah sie sich aufs neue verzweifelt um. Diese Stätte erregte nur Kummer in ihr. Infolge des unbesonnenen Diebstahls, den sie hier begangen hatte, war Joffrey, ihre einzige Liebe, verurteilt, ihrer beider Leben zerstört worden .!
Sie zwang sich, ein wenig zu ruhen. Als das Gezwitscher junger Stimmen auf dem Rasen unten ihr verkündete, daß ihre Kinder erwacht waren, lief sie hinunter und hieß sie, zusammen mit Barbe, Javotte, Flipot und Leichtfuß, eine alte Kutsche besteigen, die sie selbst lenkte. Und die ganze Gesellschaft fuhr vergnügt nach Monteloup.
Die Sonne war schon im Sinken und warf ein safran-farbenes Licht auf die weiten, grünen Wiesen, auf denen die Maultiere weideten. Die Trockenlegung der Sümpfe war weit vorangeschritten und gab der Landschaft ein ungewohntes Aussehen.
Aber als sie über die Zugbrücke fuhren, auf der die Truthähne wie früher herumstolzierten, sah Angélique, daß das Schloß ihrer Kindheit sich nicht verändert hatte. Der mäßige Wohlstand, dessen sich der Baron und seine Familie erfreuten, hatte ihnen nicht erlaubt, an dem alten Gebäude alle notwendigen Reparaturen durchführen zu lassen. Der Turm, die zinnengekrönten Einfassungsmauern zerfielen weiterhin unter ihrer dichten Efeuverkleidung, und der Haupteingang führte immer noch durch die Küche. Dort trafen sie den alten Baron neben der Zwiebeln schälenden Amme an. Die Amme war noch genauso groß und beweglich wie einst, aber sie hatte fast alle ihre Zähne verloren, und mit ihrem schlohweißen Haar wirkte sie so braun wie eine Maurin.
War es Einbildung? Angélique kam es vor, als habe die Freude, mit der ihr Vater und die alte Frau sie begrüßten, etwas Gezwungenes, wie es so oft der Fall ist, wenn man nach langer Zeit unverhofft jemandem begegnet, den man tot geglaubt hatte. Wohl hatte man ihn betrauert, aber das Leben war weitergegangen, und nun war man gezwungen, ihm einen neuen Platz einzuräumen.
Florimonds und Cantors Gegenwart half über die Verlegenheit hinweg. Die Amme drückte »die süßen Spätzchen« an ihr Herz. Innerhalb von drei Minuten hatten sie von ihren Küssen rote Wangen und die Hände voller Äpfel und Nüsse.