Cantor, der auf den Tisch geklettert war, sang ihr sein ganzes Repertoire vor.
»Und die alte kleine Dame von Monteloup, das Gespenst, geht sie immer noch um?«
»Ich habe sie lange nicht mehr gesehen«, sagte die Amme kopfschüttelnd. »Seitdem Jean-Marie, der Jüngste, aufs Gymnasium gegangen ist, hat sie sich nicht mehr gezeigt. Ich hab’s mir immer gedacht, daß sie ein Kind gesucht hat .«
Im düsteren Salon saß Tante Jeanne noch immer gravitätisch über ihren Stickarbeiten wie eine dicke, schwarze Spinne inmitten ihres Netzes.
»Sie hört nicht mehr gut, und ihr Geist ist verwirrt«, sagte der Baron.
Die Alte erkannte Angélique indessen, nachdem sie sie eine Weile angestarrt hatte, und sagte mit brüchiger Stimme:
»Kommt der Hinkende auch? Ich dachte, man habe ihn verbrannt?«
Es war das einzige Mal, daß man in Monteloup eine Anspielung auf ihre erste Ehe machte. Diesen Abschnitt ihres Lebens ließ man im Dunkel. Vielleicht stellte sich der alte Baron überhaupt nicht viele Fragen. Im Laufe dieser Jahre waren seine Kinder ausgeflogen, sie hatten sich verheiratet, waren zurückgekehrt oder auch nicht zurückgekehrt, und nun verwechselte er die verschiedenen Schicksale. Er sprach viel von Denis, dem Offizier, und von JeanMarie, dem Jüngsten. Er beschäftigte sich nicht mit Hortense und wußte offenbar nicht, was aus Gontran geworden war. Sein Lieblingsthema blieben immer die Maulesel.
Nachdem Angélique durch das ganze Schloß gegangen war, fühlte sie sich aufgeheitert. Monteloup hatte sich tatsächlich nicht verändert. Alles war noch wie damals: ein wenig düster, ein wenig armselig, aber so herzerwärmend!
Beglückt stellte sie fest, daß ihre Kinder sich in der Küche von Monteloup so zu Hause fühlten, als seien sie zwischen dem Dampf der Kohlsuppe und den Geschichten der Amme zur Welt gekommen.
Sie wären gar zu gern zum Abendbrot und zum Schlafen geblieben, aber Angélique brachte sie nach Plessis zurück, da sie fürchtete, daß Philippe inzwischen ankommen und sie nicht vorfinden könne.
Am nächsten Tage jedoch kehrte sie, da noch immer kein Bote gekommen war, allein zu ihrem Vater zurück. Mit ihm zusammen wanderte sie über die Felder, und er machte sie auf alle Verbesserungen aufmerksam, die er hatte vornehmen lassen.
Es war ein köstlicher Nachmittag. Angélique war so aufgeräumt, daß sie am liebsten gesungen hätte.
Am Ende des Spaziergangs, dicht vor dem Schloß, blieb der Baron plötzlich stehen und betrachtete seine Tochter. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus.
»So bist du also zurückgekehrt, Angélique?« sagte er.
Er legte seine Hand auf ihre Schulter und wiederholte mehrmals: »Angélique, meine Tochter Angélique .«
Ihre Augen wurden feucht. Bewegt sagte sie:
»Ich bin zurückgekehrt, Vater, und wir werden einander oft sehen können. Ihr wißt, daß bald meine Hochzeit mit Philippe du Plessis-Bellière stattfinden wird, für die Ihr uns Eure Zustimmung übersandt habt.«
»Aber ich dachte, die Hochzeit habe bereits stattgefunden?« versetzte er verwundert.
Angélique preßte die Lippen zusammen und erwiderte nichts. Was bezweckte Philippe damit, daß er die Leute der Umgebung und ihre eigene Familie bei dem Glauben ließ, die Trauung sei in Paris vollzogen worden .?
Auf dem Heimweg war sie ziemlich unruhig, und ihr Herz klopfte rascher, als sie im Hof die Kutsche des Marquis erkannte.
Die Lakaien sagten ihr, er sei vor über zwei Stunden schon angekommen. Eilig schritt sie dem Eingang zu. Als sie die Treppe hinaufstieg, hörte sie die Kinder schreien.
»Gewiß ein Jähzornanfall Florimonds oder Can-tors«, dachte sie verärgert. »Die Landluft bringt sie außer Rand und Band.«
Ihr zukünftiger Stiefvater durfte nicht zu dem Eindruck gelangen, daß sie unerträgliche Wesen seien. Sie hastete also nach dem Zimmer der Kleinen, um energisch Ordnung zu schaffen, und erkannte im Näherkommen Cantors Stimme. Er schrie in Tönen unsagbaren Entsetzens, und in sein Geschrei mischte sich wütendes Hundegebell.
Angélique stieß die Tür auf und blieb wie versteinert stehen.
Vor dem brennenden Kamin standen, eng aneinandergedrückt, Florimond und Cantor. Sie wurden von drei riesigen, kohlrabenschwarzen Wolfshunden bedrängt, die sie wütend anbellten, während sie wild an ihren Koppelriemen zerrten. Die Enden der Koppelriemen fanden sich in der Hand des Marquis du Plessis vereinigt, der sich höchlichst über die Angst der Kinder zu amüsieren schien. Auf dem Fußboden entdeckte Angélique den in einer Blutlache liegenden Kadaver einer der Doggen der kleinen Jungen, die offenbar bei dem Versuch, sie zu beschützen, erwürgt worden war.
Cantor schrie, sein rundes Gesicht war tränen-überströmt. Florimonds bleiche Miene dagegen zeigte einen außerordentlich mutigen Ausdruck. Er hatte seinen kleinen Degen gezogen und richtete ihn auf die Meute, um seinen Bruder zu verteidigen.
Angélique kam nicht dazu, einen Schrei auszustoßen. In einer impulsiven Aufwallung griff sie nach einem schweren Schemel und schleuderte ihn mit aller Kraft auf die Hunde, die vor Schmerz aufheulten und zurückwichen.
Schon hatte sie Florimond und Cantor in ihre Arme gerissen. Sie klammerten sich an sie, und Cantor verstummte sofort.
»Philippe«, sagte sie keuchend, »Ihr dürft die Kinder nicht so erschrecken ... Sie hätten rückwärts ins Feuer fallen können. Seht, Cantor hat sich schon an einer herausschlagenden Flamme die Hand verbrannt.«
Der junge Mann richtete seine harten, klaren Augen auf sie.
»Eure Söhne sind zimperlich wie alte Weiber«, sag-te er träge.
Seine Gesichtsfarbe schien dunkler als gewöhnlich, und er schwankte leicht.
»Er hat getrunken«, sagte sie sich.
In diesem Augenblick kam Barbe atemlos hereingestürzt, die Hand an ihre Brust gepreßt, um ihr klopfendes Herz im Zaum zu halten. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, während sie von Philippe zu Angélique und schließlich zu dem leblos auf dem Boden liegenden Hunde wanderten.
»Madame möge mir verzeihen. Ich war in die Speisekammer gegangen, um Milch für die Mahlzeit der Kleinen zu holen. Ich hatte sie unter Flipots Obhut gelassen. Ich ahnte nicht .«
»Es ist nichts Schlimmes geschehen, Barbe«, unterbrach Angélique sie ruhig. »Die Kinder sind an den Anblick so blutgieriger Jagdhunde nicht gewöhnt. Sie müssen sich damit vertraut machen, wenn sie später wie richtige Edelmänner den Hirsch und das Wildschwein jagen wollen.«
Die zukünftigen Edelmänner warfen wenig begeisterte Blicke auf die drei Tiere, aber da sie von Angéliques Armen umschlossen waren, hatten sie keine Angst mehr.
»Ihr seid kleine Toren«, sagte sie in sanft scheltendem Ton zu ihnen.
In seinem Reisekostüm aus goldbraunem Samt stand Philippe breitbeinig da und betrachtete schweigend die Gruppe der Mutter mit ihren Kindern. Plötzlich schwang er die Peitsche über den Hunden,
zog sie zurück und verließ den Raum.
Barbe beeilte sich, die Tür zu schließen.
»Flipot hat mich geholt«, flüsterte sie. »Der Herr Marquis hatte ihn aus dem Zimmer gejagt. Ihr könnt mir nicht ausreden, daß er die Kinder von seinen Hunden auffressen lassen wollte ...«
»Red keine Dummheiten, Barbe«, fiel Angélique ihr ins Wort. »Der Herr Marquis ist an Kinder nicht gewöhnt. Er wollte spielen.«
»Ja, ja, die Spiele der vornehmen Leute. Man weiß, wie weit das gehen kann. Ich kenne einen armen Jungen, dem sie teuer zu stehen kamen.«
Angélique erschauerte bei dem Gedanken an Linot. War der blonde Philippe mit dem nachlässigen Gang nicht auch unter den Peinigern des kleinen Oblatenverkäufers gewesen? Zumindest hatte er taube Ohren für dessen verzweifeltes Flehen gehabt ...
Da sie sah, daß die Kinder sich beruhigt hatten, kehrte sie in ihre Gemächer zurück. Sie setzte sich vor den Frisiertisch und ordnete ihr Haar. Was hatte dieser Auftritt eben zu bedeuten? Mußte man ihn ernst nehmen? Philippe war betrunken, das sah man auf den ersten Blick. Wieder nüchtern geworden, würde er sich entschuldigen, solche Aufregung verursacht zu haben ... Aber ein Wort ihrer Schwester Marie-Agnès kam auf Angéliques Lippen: »Ein Rohling!« Ein heimtückischer, erbarmungsloser Rohling. »Wenn er sich an einer Frau rächen will, schreckt er vor nichts zurück.«