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Im Angesicht des kleinen, bleichen und wie ausgedörrten Leichnams weinte Angélique nicht. Sie verübelte sogar Hortense deren unaufrichtige Tränen. Warum weinte denn diese siebzehnjährige Hopfenstange? Sie hatte weder Madelon noch sonst jemanden geliebt, nur sich selbst.

»Ja, meine Kleinen«, sagte die alte Ordensschwester zu ihnen, »das ist eben Gottes Wille. Viele Kinder sterben. Man hat mir gesagt, Eure Mutter habe zehn Kinder gehabt und nur ein einziges verloren. Mit diesem hier sind es zwei. Das ist nicht viel. Ich kenne eine Dame, die fünfzehn Kinder hatte und sieben davon verlor. Seht Ihr, so ist das. Gott gibt sie, Gott nimmt sie wieder. Viele Kinder sterben. Das ist Gottes Wille! ...«

Nach Madelons Tod nahm Angéliques Eigensinn krasse Formen an, sie wurde geradezu undiszipliniert. Sie tat, was ihr eben einfiel, verschwand für viele Stunden in abgelegenen Schlupfwinkeln des ausgedehnten Gebäudes. Seit ihrer Eskapade hatte man ihr das Betreten des Gartens und des Gemüselandes untersagt, doch fand sie gleichwohl Mittel, sich dorthin zu schleichen. Man dachte daran, sie nach Hause zu schicken, aber Baron de Sancé bezahlte trotz der Schwierigkeiten, die der Bürgerkrieg ihm verursachte, regelmäßig das Pensionsgeld für seine beiden Töchter, was nicht auf alle Zöglinge zutraf. Überdies versprach Hortense, als eine der besten Schülerinnen in die nächste Klasse versetzt zu werden. Der Älteren zuliebe behielt man die Jüngere. Aber man gab es auf, sich um sie zu kümmern.

An einem Januartag des Jahres 1652 hockte Angélique, die eben fünfzehn geworden war, wieder einmal auf der Mauer des Gemüsegartens und vergnügte sich damit, das Kommen und Gehen auf der Straße zu beobachten und sich in der lauen Wintersonne zu wärmen.

Es ging in diesen ersten Tagen des Jahres hoch her zu Poitiers, denn die Königin, der König und ihre Anhänger hatten sich gerade in der Stadt niedergelassen. Arme Königin, armer junger König, von einer Revolte nach der andern geschüttelt! Eben begaben sie sich nach Guyenne, um gegen den Fürsten Condé zu kämpfen. Auf dem Rückweg halten sie sich im Poitou auf und versuchen, mit Turenne zu verhandeln, der diese Provinz von Fontenay-le-Comte bis zum Meer in der Hand hat. Châtellerault und Luçon, die alten protestantischen Festungen, haben sich dem hugenottischen General angeschlossen, doch Poitiers, das nicht vergißt, daß hundert Jahre zuvor die Ketzer seine Kirchen plünderten und seinen Bürgermeister hängten, hat dem Monarchen seine Tore geöffnet.

Heute sieht man neben dem königlichen Jüngling nur noch die schwarze Robe der spanischen Mutter. Das Volk, ganz Frankreich haben so oft geschrien: »Keinen Mazarin! Keinen Mazarin!«, daß der Mann in der roten Robe sich endlich gebeugt hat. Er hat die Königin verlassen, die er liebte, und ist nach Deutschland gegangen. Doch sein Verschwinden genügt noch nicht, um die Gemüter zu beruhigen .

Von der Mauer ihres Klosters lauschte Angélique dem Summen der in Bewegung geratenen Stadt, deren Erregung sich sogar diesem abgelegenen Viertel mitteilte.

Plötzlich kam am Fuß der Mauer, einem Vogelschwarm gleich, eine lustige Schar von Pagen in ihren rötlichgelben Gewändern aus Atlas und Seide vorbeigezogen. Einer von ihnen blieb stehen, um sein Schuhband festzuknüpfen. Als er sich wieder aufrichtete, hob er den Kopf und entdeckte Angélique, die ihn von der Mauer herab musterte.

Der Page schwenkte galant seinen Hut.

»Seid gegrüßt, Demoiselle! Ihr seht nicht aus, als ob Ihr Euch da droben amüsiertet!«

Er glich jenen Pagen, die sie auf Schloß Plessis gesehen hatte, da er wie sie die bauschige kleine Hose trug, die »Pluderhose«, Erbstück des 16. Jahrhunderts, in der seine Beine unendlich lang wirkten. Davon abgesehen war er sympathisch mit seinem sonnengebräunten, lachenden Gesicht und den schönen, braunen, gelockten Haaren.

Sie fragte ihn nach seinem Alter, und er erwiderte, er sei sechzehn. »Aber beruhigt Euch, Demoiselle«, fügte er hinzu, »ich weiß den Damen den Hof zu machen.«

Er warf ihr schmeichelnde Blicke zu, und plötzlich streckte er ihr die Arme entgegen. »Kommt doch zu mir herunter!«

Eine wohlige Empfindung überkam sie. Es schien ihr, als öffne sich das graue, trübselige Gefängnis, in dem ihr Herz verkümmerte. Dieses hübsche, ihr zugewandte Lachen versprach - sie wußte nicht was an Süßem und Köstlichem, nach dem sie hungerte.

»Kommt«, flüsterte er. »Wenn Ihr wollt, führe ich Euch zum Palast der Herzöge von Aquitanien, wo der Hof abgestiegen ist, und zeige Euch den König.«

Sie zögerte nur einen Augenblick, dann raffte sie ihren schwarzwollenen Mantel mit der Kapuze zusammen.

»Gebt acht, ich springe!« rief sie.

Er fing sie fast in seinen Armen auf. Sie mußte lachen. Lebhaft faßte er sie um die Taille und zog sie mit sich fort.

»Was werden die Nonnen Eures Klosters sagen?«

»Sie sind an meine Streiche gewöhnt.«

»Und wie kommt Ihr wieder heim?«

»Ich werde an der Pforte läuten und um ein Almosen bitten.«

Er lachte hell auf.

Diese Eskapade erinnerte Angélique an jene andere, so schmerzliche, aber sie bemühte sich, den Gedanken zu verjagen, und berauschte sich an dem bunten Treiben, das sie plötzlich umgab. Zwischen den vornehmen Herren und Damen, über deren schöne Kleidung die Provinzbewohner sich verwunderten, strichen Händler umher. Bei einem von ihnen kaufte der Page zwei Stäbchen, auf denen Stücke von gebratenen Fröschen aufgereiht waren. Da er immer nur in Paris gelebt hatte, fand er dieses Gericht spaßig. Sie aßen mit großem Appetit. Der Page erzählte, er heiße Henri de Roguier und sei dem Gefolge des Königs zugeteilt. Dieser, ein lustiger Kamerad, verlasse gelegentlich die ernsten Herren seines Kronrats, um mit seinen Freunden zusammen ein bißchen auf der Gitarre zu klimpern. Die reizenden italienischen Püppchen, Nichten des Kardinals Mazarin, seien immer noch am Hofe, trotz des erzwungenen Abgangs ihres Onkels.

Immer weiterplaudernd, zog der Junge Angélique hinterlistig mit sich in weniger belebte Viertel. Sie merkte es, sagte jedoch nichts. Ihr plötzlich erwachter Körper wartete auf etwas, was die Hand des Pagen an ihrer Hüfte verhieß.

Er blieb stehen und drängte sie sanft in den Winkel einer Tür. Dann begann er, sie glühend zu küssen. Er sagte banale und amüsante Dinge.

»Du bist hübsch . Du hast Wangen wie Maßliebchen und grüne Augen wie die Frösche . die Frösche deiner Gegend . Bleib ruhig. Ich will deinen Schnürleib öffnen ... Wehr dich nicht. Ich weiß schon, was ich tue ... Oh! Ich habe noch nie so weiße und so süße Brüste gesehen ... Und fest wie Äpfel ... Du gefällst mir, mein Herzchen .«

Sie ließ ihn tasten, streicheln. Sie bog ein wenig den Kopf zurück, lehnte ihn an den bemoosten Stein, und ihre Augen fixierten mechanisch ein Stück blauen Himmels, durch das sich die Kante eines geschweiften Daches zog.

Nun schwieg der Page; sein Atem keuchte. Erregt schaute er sich mehrmals ärgerlich um. Die Straße war ziemlich still, aber es kamen immer wieder Leute vorüber. Sogar ein Schwarm Seminaristen erschien, die »Huh! Huh!« machten, als sie das junge Paar im Schatten der Mauer entdeckten.

Der Junge trat zurück und stampfte auf.

»Ach, das ist gräßlich! Die Häuser sind zum Bersten voll in dieser verdammten Provinzstadt. Sogar die großen Herren müssen ihre Mätressen in den Vorzimmern empfangen. Wo kann man da einigermaßen ungestört sein, möchte ich wissen?«

»Es ist doch ganz schön hier«, flüsterte sie.

Aber er war nicht zufrieden. Er warf einen Blick in die kleine Geldbörse, die er am Gürtel trug, und sein Gesicht hellte sich wieder auf.

»Komm! Ich hab’ einen Gedanken! Wir werden ein Kämmerchen nach unserem Geschmack finden.«

Er nahm sie bei der Hand und rannte mit ihr los. Sie eilten vergnügt die Straßen bis zum Platz von Notre-Dame-la-Grande hinunter. Obwohl sie nun schon über zwei Jahre in Poitiers war, kannte sie die Stadt noch nicht. Sie betrachtete staunend die Fassade der Kirche, die wie ein indisches Kästchen gearbeitet und von kleinen Glockentürmen in Tannenzapfenform flankiert war. Man hätte meinen können, der Stein selbst sei unter dem Zaubermeißel der Steinmetze aufgeblüht.