Der junge Henri hieß sie unter dem Portal auf ihn warten. Gleich darauf kam er höchst befriedigt zurück, einen Schlüssel in der Hand.
»Der Vikar hat mir die Kanzel für eine Weile vermietet.«
»Die Kanzel?« wiederholte Angélique verblüfft.
»Pah! Es ist nicht das erstemal, daß er armen Liebespaaren diesen Dienst erweist. Die Beichtstühle sind billiger, aber nicht so bequem.«
Er hatte sie wieder um die Hüfte gefaßt und stieg die Stufen zum Kirchenraum hinunter.
Angélique war tief beeindruckt vom Dämmerlicht und von der Kühle der Gewölbe. Die Kirchen des Poitou sind die dunkelsten von ganz Frankreich, festgefügte Gebäude, die auf mächtigen Pfeilern ruhen, und sie bergen in ihrer Dämmerung alte Fresken, deren lebhafte Farben ganz allmählich dem überraschten Auge erkennbar werden. Die beiden jungen Menschen schritten schweigend durch den Raum.
»Mich fröstelt«, murmelte Angélique und zog ihren Mantel enger zusammen.
»Komm, komm«, flüsterte er. »Ich werde dich wärmen.«
Aber die frohe Erregung des Mädchens legte sich. Diese Kirche, dieses tiefe, vom Flimmern der Kerzen durchleuchtete Dunkel und plötzlich auch dieser fremde Junge flößten ihr Angst ein.
Indessen öffnete der mit dem Ort vertraute Page die erste Tür der monumentalen Kanzel, stieg die Stufen empor und drang in die dem Priester vorbehaltene Rotunde ein. Ein wenig mechanisch folgte ihm Angélique. Sie wußte noch nicht recht, was sie eigentlich wollte. Brüsk umzukehren, kam ihr lächerlich vor. Und dann machte sie der Gedanke an die Hände des Jungen auf ihren Brüsten schlaff. Vielleicht brauchte man sich nur aufs neue seinen Liebkosungen zu überlassen, um wieder das Gefühl des Träumens, der wolkenlosen Bläue zu haben.
Er ließ sich auf dem mit einem Samtteppich belegten Boden nieder, zog sie ziemlich brutal zu sich herab und zwang sie, sich auszustrecken. Sie glaubte, er werde sie von neuem küssen, doch als er gewalttätig ihren Rock hochriß, setzte sie sich wieder auf und stieß ihn zurück. Sie kämpften eine Weile im weihrauchgeschwängerten Dämmerlicht.
»Warum stellst du dich denn so an?« knurrte der Page endlich. »Was willst du?«
»Ich weiß nicht«, stammelte Angélique. »Ich hätte lieber ... Ich weiß nicht ... ein großes, weißes Bett mit Spitzen .«
»Bist du dumm! Auf dem harten Boden ist es doch am schönsten. Ich versichere dir, wir Pagen, die wir die Gelegenheiten ergreifen müssen, die sich uns gerade bieten, haben viel mehr Spaß an der Sache als so manche große Herren, die in ihren Federbetten versinken und viel Schweiß für das halbe Vergnügen lassen. Also sei kein Frosch«, drängte er, »ich hab’ keine Zeit, lange Faxen zu machen. Ich hab’ nur für eine halbe Stunde gemietet.«
Sie war nahe daran nachzugeben, dann lehnte sie sich innerlich auf und wehrte sich wieder. Ihr Kopf schlug an die Balustrade aus massivem Holz, und der Anprall rührte unter den Gewölben ein mächtiges Echo auf.
Sie hielten verblüfft und ein wenig ängstlich inne.
»Ich glaube, es kommt jemand«, flüsterte Angélique.
Der Junge gestand mit verdrossener Miene: »Ich hab’ vergessen, die Kanzeltür unten an der Treppe abzuschließen.«
Dann schwiegen sie und horchten auf die sich nähernden Schritte. Jemand stieg die Stufen zu ihrem Unterschlupf herauf, und der von einem schwarzen Käppchen bedeckte Kopf eines alten Priesters erschien über ihnen.
»Was tut ihr hier, meine Kinder?« fragte er.
Der schlagfertige Page hatte schon seine Geschichte bereit.
»Ich wollte meine Schwester sehen, die in Poitiers in einem Internat ist, aber ich wußte nicht, wo ich mich mit ihr treffen sollte. Unsere Eltern .«
»Sprich nicht so laut im Hause Gottes«, sagte der Priester. »Steht beide auf und folgt mir.«
Er führte sie in die Sakristei und setzte sich auf einen Schemel. Dann stützte er die Hände auf die Knie und schaute sie abwechselnd an. Das unter dem Priesterkäppchen hervorquellende weiße Haar umgab sein Gesicht, das trotz des Alters kräftige bäuerliche Farben bewahrte, wie mit einem Heiligenschein. Er hatte eine dicke Nase, kleine, lebhafte und klare Augen, einen kurzen, weißen Bart. Henri de Roguier schien mit einem Male verstört und schwieg in einer Verlegenheit, die nicht geheuchelt war.
»Ist er dein Liebhaber?« fragte der Priester plötzlich Angélique, indem er mit dem Kinn nach dem Jungen wies.
Das Mädchen errötete. »Nein! Ich . ich habe nicht gewollt.«
»Um so besser, meine Tochter. Hättest du, wenn du ein schönes Perlenhalsband besäßest, Spaß daran, es in einen Hof voller Dünger zu werfen, wo die Schweine es mit ihren rotzigen Rüsseln raffen würden? Nun? Antworte mir, Kleine! Würdest du das tun?«
»Nein, ich würde es nicht tun.«
»Du sollst die Perlen nicht vor die Säue werfen. Du sollst den Schatz deiner Jungfräulichkeit nicht vergeuden, der bis zur Heirat gehütet werden muß. Und du«, fuhr er sanft fort, indem er sich dem Jungen zuwandte, »wer hat dir den schändlichen Gedanken eingegeben, deine Freundin in eine Kirche zu führen, um sie zu entehren?«
»Wohin sollte ich sie führen?« begehrte der Junge verdrossen auf. »Ich schlafe auf dem blanken Boden im Vorzimmer des Königs. Da vermietet uns der Herr Vikar von Notre-Dame-la-Grande zuweilen die Kanzel für dreißig Livres und die Beichtstühle für zwanzig. Das bedeutet viel für meine Börse, glaubt mir, Monsieur Vincent.«
»Ich glaube es dir gern«, sagte Monsieur Vincent, »aber es bedeutet noch mehr auf der Waage, mit der der Teufel und der Engel in der Vorhalle von Notre-Dame-la-Grande die Sünden wiegen.«
Sein Gesicht, das bis dahin einen heiteren Ausdruck bewahrt hatte, war hart geworden. Er streckte die Hand aus.
»Gib mir den Schlüssel, den man dir anvertraut hat.«
Und nachdem der Junge ihn übergeben hatte: »Du wirst beichten, nicht wahr? Ich erwarte dich morgen in dieser Kirche. Ich werde dir Absolution erteilen. Ich weiß nur zu gut, in welcher Umgebung du lebst, armer kleiner Page! Und du versuchst lieber, bei einem Mädchen deines Alters den Mann zu spielen, als reifen Damen zum Spielzeug zu dienen, die dich in ihre Alkoven zerren, um dich zu verführen ... Ja, ich sehe dich erröten. Du schämst dich deiner unsauberen Liebeleien vor diesem unberührten Mädchen.«
Der Jüngling senkte den Kopf, seine Überlegenheit war geschwunden. Endlich stammelte er:
»Monsieur Vincent de Paul, ich bitte Euch inständig, erzählt diese Geschichte nicht der Königin. Wenn sie mich zu meinem Vater zurückschickt, wird der nicht mehr wissen, wo er mich unterbringen soll. Ich muß sechs Schwestern versorgen und bin der dritt-jüngste der Familie. Ich habe diese außerordentliche Vergünstigung, in den Dienst des Königs zu treten, nur dank Monsieur de Lorraine erlangen können, der mich ... dem ich gefiel«, vollendete er verlegen. »Er hat den Posten für mich gekauft. Wenn ich davongejagt werde, wird er bestimmt verlangen, daß mein Vater ihm die Summe zurückbezahlt, und das ist unmöglich.«
Der alte Priester schaute ihn ernst an.
»Ich werde deinen Namen nicht nennen, aber es wird gut sein, wenn ich der Königin wieder einmal die Schändlichkeiten ins Bewußtsein rufe, von denen sie umgeben ist. Ach, diese Frau ist gottesfürchtig und gewissenhaft in ihren Andachtsübungen, aber was vermag sie gegen soviel Fäulnis! Man kann die Seelen nicht durch Dekrete verwandeln .«
Er stand auf, legte seine Arme um die Schultern der beiden und führte sie hinaus. Der Abend senkte sich über den Platz vor der Kirche, deren steinerne Blumen vom fahlen Winterlicht belebt wurden.