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»Meine Lämmlein«, sagte Monsieur Vincent, »ihr Kinder des lieben Gottes, ihr habt versucht, die grüne Frucht der Liebe zu naschen. Deshalb sind eure Zähne stumpf und eure Herzen voller Traurigkeit. So laßt an der Sonne des Lebens reifen, was zu seiner Zeit sich entfalten wird. Man darf keine Irrwege gehen, wenn man die Liebe sucht, denn dann findet man sie womöglich nie. Welch grausame Strafe für die Ungeduld und die Schwäche, sein Leben lang dazu verdammt zu sein, nur in bittere und saftlose Früchte zu beißen! Ihr werdet jeder in seine Richtung zurückkehren. Du, Knabe, zu deinem Dienst, den du gewissenhaft verrichten sollst. Du, Mädchen, zu deinen Schwestern und deiner Arbeit. Und wenn der Tag anbricht, so vergeßt nicht, zu Gott zu beten, der unser aller Vater ist.« Er entließ sie. Sein Blick folgte ihren anmutigen Silhouetten, bis sie sich an der Ecke des Platzes trennten.

Angélique schaute starr vor sich hin, bis sie die Pforte des Klosters erreichte. Ein großer Friede erfüllte sie. Seltsam, sie hatte den Pagen vergessen und jenen enttäuschenden Vorgeschmack fleischlicher Lust. Doch ihre Schulter bewahrte die Erinnerung an eine alte, warme Hand.

»Monsieur Vincent«, dachte sie. »Ob das der große Monsieur Vincent ist? Der, den der Marquis du Plessis das Gewissen des Königreichs nennt? Der die Vornehmen zwingt, die Armen zu bedienen? Der täglich der Königin und dem König begegnet? Wie schlicht und milde er aussieht!«

Bevor sie den Türklopfer hob, warf sie noch einen Blick über die Stadt, die sich in Dunkel hüllte. »Monsieur Vincent, segnet mich!« flüsterte sie.

Ohne Überlegung noch Widerrede nahm Angélique die Strafe an, die ihr für diesen neuerlichen Ausbruch auferlegt wurde. Von jenem Tage an verwandelte sich ihr ungezügeltes Benehmen. Sie gab sich mit Eifer ihren Studien hin, zeigte sich ihren Kameradinnen gegenüber aufgeschlossen. Sie schien sich endlich dem strengen Geist des Klosters angepaßt zu haben.

Im September verließ ihre Schwester Hortense das Kloster. Eine entfernte Tante rief sie als Gesellschafterin zu sich nach Niort. In Wirklichkeit zielte besagte Dame, die von sehr niederem Adel war und einen reichen Beamten von dunkler Herkunft geheiratet hatte, darauf ab, ihren Sohn mit irgendeinem großen Namen zu verbinden und damit ihrem Wappenschild wieder etwas Glanz zu verleihen. Der Vater hatte gerade für den jungen Mann die Stelle eines Staatsanwalts in Paris gekauft, und dieser sollte sich nun zwischen den übrigen Adelsvertretern zeigen können. Für beide Teile war dies eine unverhoffte Gelegenheit. Die Hochzeit fand alsbald statt.

Zu gleicher Zeit kehrte der junge König Ludwig XIV. in seine Hauptstadt zurück.

Frankreich ging ausgeblutet aus einem Bürgerkrieg hervor, in dessen Verlauf sechs Armeen kreuz und quer über seinen Boden gezogen waren, einander suchend und nicht immer einander findend: Da hatte es die des Fürsten Condé gegeben, die des Königs, von Turenne geführt, der sich plötzlich entschlossen hatte, keinen Verrat zu begehen, die des Gaston d’Orléans, mit den Engländern verbündet und mit den französischen Fürsten überwerfen, die des Herzogs von Beaufort, die mit allen entzweit war, die die Spanier jedoch unterstützten, die des Herzogs von Lothringen, die auf eigene Rechnung operierte, und schließlich die Mazarins, der der Königin aus Deutschland hatte Verstärkung schicken wollen. Beinahe wäre Mademoiselle de Montpensier zum Armeegeneral ernannt worden - dank ihrem Entschluß, die Kanonen der Bastille auf die Truppen ihres eigenen Vetters, des Königs, feuern zu lassen. Eine Geste, die die Grande Mademoiselle teuer bezahlen mußte, denn sie wirkte auf gar viele fürstliche Bewerber um ihre Hand recht abschreckend.

»Mademoiselle hat soeben ihren Gatten >getötet<«, hatte in seinem weichen Abruzzendialekt der Kardinal Mazarin gemurmelt, als man ihm die Sache mitteilte.

Dieser letztere blieb der große Sieger in dieser schlimmen und grotesken Krise. Nach knapp einem Jahr sah man in den Gängen des Louvre wieder seine rote Robe, aber es gab keine »Mazarinaden« mehr. Alle Welt war am Ende der Kräfte.

Angélique wußte, daß das Dorf Monteloup fast völlig dem Erdboden gleichgemacht worden war. Es hatten sogar Offiziere im Schloß kampiert, aber eine Empfehlung des Fürsten Condé hatte sie veranlaßt, sich dem Baron und seiner Familie gegenüber höflich zu verhalten, und man behielt sie in nicht allzu schlechter Erinnerung. Hingegen war die Hälfte der Maultiere kurzerhand von den Truppen mitgenommen worden. Dennoch wurde das Pensionsgeld für Angélique weiterhin pünktlich übersandt, was bewies, daß der alte Molines sich zu helfen gewußt hatte, allen Ereignissen zum Trotz.

Angélique hatte eben ihr siebzehntes Lebensjahr erreicht, als sie den Tod ihrer Mutter erfuhr. Sie betete viel in der Kapelle, weinte jedoch nicht. Sie konnte es nicht fassen, daß sie jene schmale Gestalt im grauen Kleid mit dem schwarzen Kopftuch, über dem im Sommer ein altmodischer Strohhut saß, nie mehr sehen würde. Als Hüterin des Obst- und Gemüsegartens hatte Madame de Sancé vielleicht an ihre Birnbäume und Kohlköpfe mehr Sorge und Zärtlichkeit verschwendet als an ihre zahlreichen Kinder. Da sie es sich nicht wie die Damen des wohlhabenden Adels leisten konnte, in ihrem Park Labyrinthe und Wasserspiele zu schaffen, hatte sie ihren Ehrgeiz auf einem mehr bäuerlichen Gebiet befriedigt. Ihre Früchte und Gemüse waren die schönsten der Gegend, und dank ihrer war Angélique zusamt ihren Brüdern und Schwestern, statt mit Mehlbrei und Wildbret gestopft zu werden, nach einem reichhaltigen und abwechslungsreichen, Salate und Kompotte enthaltenden Speisezettel großgezogen worden, was allen eine frische Gesichtsfarbe und eine eiserne Gesundheit eingebracht hatte.

Das sind Segnungen, die man mit siebzehn Jahren kaum zu schätzen weiß. Madame de Sancé hatte eine sanfte Stimme gehabt, aber ihre Worte waren allzu spärlich gewesen. Sie hatte ihre Kinder durch unermüdliches Wirken am Leben erhalten, aber sie hatten sie wenig gesehen.

Doch als Angélique am Abend ausgestreckt in ihrem schmalen Bett lag, kam es ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß es eben diese schweigsame und immer heimlich seufzende Frau gewesen war, die sie unterm Herzen getragen hatte. Sie fühlte sich bewegt, und sie strich mit der Hand ganz sacht über ihren jungen Leib, der fest und fleischig war. War es denn möglich, daß man ein richtiges, lebendiges Kind in einem so engen, so wohlverschlossenen Raum tragen konnte, zehnmal hintereinander und noch mehr? Und die Kinder entschwanden, zuerst in die Arme der Ammen, dann in die Welt hinaus, nach Amerika oder in die Arme des Gatten oder auch, um zu sterben. Sie mußte plötzlich an das seltsame blasse Wesen denken, das ihre kleine Schwester Madelon gewesen war. Vom Mutterleib gelöst, hatte sie nur Entsetzen und Bangigkeit gekannt. Die Geschichten der Amme machten sie schaudern. Sie hatte in einer imaginären Welt gelebt, die grausiger gewesen war als die wirkliche, und niemand hatte ihr beigestanden.

»Wenn ich einmal Kinder habe«, sagte sich Angélique, »dann werde ich sie nicht fern von mir sterben lassen. Ich werde sie liebhaben, ach, wie werde ich sie liebhaben und den ganzen Tag in meinen Armen halten!«

Es geschah gelegentlich des Todes ihrer Mutter, daß Angélique ihre beiden Brüder Raymond und Denis wiedersah, denn sie kamen, um sie von ihm in Kenntnis zu setzen. Das Mädchen empfing sie im Sprechzimmer, hinter dem kalten Gitter, wie die Klosterregel der Ursulinerinnen es verlangte.

Denis war jetzt auf dem Gymnasium. Mit den Jahren kam er immer mehr aufJosselin heraus, so daß sie im ersten Augenblick glaubte, ihren ältesten Bruder vor sich zu haben, wie sie ihn in der Erinnerung trug: in seiner schwarzen Schülertracht und mit dem Tintenbehälter aus Horn an seinem Gürtel. Sie war dermaßen betroffen über diese Ähnlichkeit, daß sie den Geistlichen, der ihren Bruder begleitete, nach flüchtiger Begrüßung nicht weiter beachtete, so daß er seinen Namen nennen mußte.

»Ich bin Raymond, Angélique, erkennst du mich nicht mehr?«