Gleichwohl legte er ihr gegenüber ausgesprochene Gleichgültigkeit an den Tag. Er schien sie kaum zu sehen, wenn er ihr auch die ihrem Stande gebührende Achtung erwies. Er begrüßte sie allmorgendlich, und sie präsidierte ihm gegenüber den Mahlzeiten, an denen stets mindestens ein Dutzend Personen teilnahm, unter ihnen natürlich der unvermeidliche Andijos. Die Frauen benahmen sich geziert, wie es in Paris Mode war.
»Laßt Euch nicht durch all die fremden Gesichter verdrießen, die in meinem Palais ein und aus gehen, Angélique«, sagte der Graf eines Tages zu ihr. »Wenn sie Euch lästig sind, so könnt Ihr Euch in das Lusthaus an der Garonne zurückziehen.«
Doch Angélique empfand nicht das Bedürfnis, sich abzusondern. Ganz allmählich ließ sie sich vom Reiz dieses beschwingten Lebens gefangennehmen. Einige Damen, die sie zunächst verächtlich über die Schulter angesehen hatten, mußten ihr schließlich doch Geist und Klugheit zubilligen und nahmen sie in ihre Zirkel auf. Angesichts des Erfolges der Empfänge, die der Graf in diesem Heim veranstaltete, das trotz allem auch das ihrige war, fand die junge Frau allmählich Geschmack daran, deren Gestaltung in die Hand zu nehmen. Man sah sie von den Küchen in die Gärten eilen und vom Dachgeschoß in die Keller, stets gefolgt von ihren drei Negerlein.
Sie hatte sich an ihre lustigen runden und schwarzen Gesichter gewöhnt. Es gab viele Negersklaven in Toulouse. Einzig Kouassi-Ba beeindruckte Angélique einigermaßen. Wenn der dunkle Koloß mit den emailweißen Augen vor ihr auftauchte, mußte sie sich jedesmal zusammennehmen, um nicht ängstlich zurückzuweichen. Indessen schien er sehr sanft zu sein. Er ging dem Grafen Peyrac nicht von der Seite, und er war es auch, der die Tür zu dem geheimnisvollen Raum im Innern des Palastes bewachte, in den sich der Graf jeden Abend und zuweilen sogar am Tage zurückzog. Angélique zweifelte nicht, daß dieser verschlossene Bezirk die Retorten und Fielen barg, von denen Henrico der Amme erzählt hatte. Gar zu gern wäre sie dort eingedrungen, aber sie wagte es nicht. Einem der Gäste des Hauses blieb es vorbehalten, ihr diese neue Seite an dem seltsamen Wesen ihres Gatten zu offenbaren.
Der Gast war mit Staub bedeckt. Er reiste zu Pferd und kam aus Lion über Nîmes.
Es war ein ziemlich hochgewachsener Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren. Er redete zuerst italienisch, ging dann zum Lateinischen über, das Angélique schlecht verstand, und drückte sich schließlich auf deutsch aus. In dieser Sprache, die Angélique vertraut war, stellte der Graf den Reisenden vor.
»Professor Bernalli aus Genf erweist mir die große Ehre hierherzukommen, um mit mir wissenschaftliche Probleme zu diskutieren, die seit vielen Jahren Gegenstand eines regen Briefwechsels zwischen uns sind.«
Der Fremde verbeugte sich mit typisch italienischer Galanterie und erging sich in Protesten. Er werde gewiß mit seinen abstrakten Reden und seinen Formeln einer bezaubernden Dame lästig fallen, deren Sorgen vermutlich von weniger gewichtiger Art seien.
Halb aus Trotz, halb aus wirklicher Neugier bat Angélique, ihrer Diskussion beiwohnen zu dürfen. Um sie indessen nicht zu stören, setzte sie sich in die Nische eines hohen, nach dem Hofe geöffneten Fensters.
Es war Winter, aber es herrschte eine trockene Kälte, und die Sonne strahlte noch immer. Aus den Höfen drang der Geruch der kupfernen Kohlenbecken herauf, an denen sich die Diener wärmten.
Angélique, eine Stickerei in der Hand, lauschte dem Gespräch der beiden Männer, die sich am Kamin, in dem ein spärliches Holzfeuer brannte, einander gegenübergesetzt hatten. Ihren Worten entnahm sie, daß der Ankömmling überzeugter Anhänger eines gewissen Descartes war, den ihr Gatte jedoch heftig bekämpfte.
In einer seiner bevorzugten Posen lässig im Polstersessel zurückgelehnt, wirkte Joffrey de Peyrac kaum ernsthafter, als wenn er sich mit den Damen über Reime eines Sonetts unterhielt. Seine ungezwungene Haltung stand im Kontrast zu der seines Gesprächspartners, der, leidenschaftlich erregt durch ihren Dialog, steif auf dem Rande seines Schemels saß.
»Euer Descartes ist zweifellos ein Genie«, sagte der Graf, »aber seine Theorien strotzen von in die Augen springenden Irrtümern. Nehmen wir, wenn Ihr wollt, das Prinzip der Gravitation, das heißt der gegenseitigen Anziehung der Körper, und im speziellen des Falls der Körper auf die Erde. Descartes behauptet, wenn ein Körper an einen andern stoße, setze er ihn nur dann in Bewegung, wenn seine Masse größer sei als die des andern. Eine Kugel aus Kork, die an eine Kugel aus Gußeisen stoße, könne diese also nicht verrücken.«
»Das ist doch vollkommen evident. Und erlaubt mir, die Formulierung von Descartes zu zitieren: >Die arithmetische Summe der in Bewegung befindlichen Quantitäten der verschiedenen Teile des Universums bleibt konstante«
»Nein«, rief Joffrey de Peyrac und stand so brüsk auf, daß Angélique zusammenfuhr. »Nein, das ist eine trügerische Evidenz, und Descartes hat es nicht experimentell bewiesen. Um seinen Irrtum zu gewahren, hätte er nur mit der Pistole eine Bleikugel vom Gewicht einer Unze auf eine mehr als zweipfündige Kugel aus zusammengeballtem Papier abzuschießen brauchen. Die Papierkugel wäre aus ihrer Lage gebracht worden.«
Bernalli schaute den Grafen verblüfft an.
»Ich gestehe, daß Ihr mich verwirrt. Aber ist Euer Beispiel gut gewählt? Vielleicht tritt bei diesem Experiment mit dem Pistolenschuß ein neues Moment hinzu? Wie soll ich es nennen: die Gewalt, die Kraft .«
»Es ist ganz einfach das Moment der Geschwindigkeit. Aber es ist für das Schießen nicht spezifisch. Jedesmal, wenn ein Körper von der Stelle gerückt wird, tritt dieses Moment in Wirksamkeit. Was Descartes die Quantität der Bewegung nennt, ist das Gesetz der Geschwindigkeit und nicht eine arithmetische Summierung der Dinge.«
Bernalli hielt die Faust an die Lippen und dachte nach.
»Ich habe mir das alles bereits überlegt und auch mit Descartes selbst darüber diskutiert, als ich ihn in Den Haag traf, bevor er nach Schweden aufbrach, wo er ja leider gestorben ist. Wißt Ihr, was er mir erwidert hat? Er hat mir erklärt, dieses Gesetz der Anziehung müsse abgelehnt werden, weil >etwas Okkultes< an ihm sei und es a priori ketzerisch und suspekt erscheine.«
Graf Peyrac brach in schallendes Gelächter aus.
»Descartes wollte die Pension nicht verlieren, die Mazarin ihm bewilligt hat. Er erinnerte sich vermutlich des armen Galilei, der unter den Foltern der Inquisition seine hetzerische Theorie von der Bewegung der Erde< widerrufen mußte und später mit dem Seufzer >Und sie bewegt sich doch!< starb. Descartes hat sich zwar in der reinen Mathematik als ein Genie erwiesen, aber auf dem Gebiet der Dynamik und der allgemeinen Physik hat er nichts Entsprechendes geleistet. Seine Experimente im Zusammenhang mit dem Fallgesetz der Körper, falls er überhaupt je ernsthaft welche angestellt hat, sind embryonal. Er hätte, um sie zu vervollständigen, eine erstaunliche, aber nach meinem Dafürhalten nachweisbare Tatsache berücksichtigen müssen: nämlich, daß die Luft nicht leer ist.«
»Was wollt Ihr damit sagen? Eure Paradoxa verblüffen mich!«
»Ich behaupte, daß die Luft, in der wir uns bewegen, in Wirklichkeit nur ein spezifisch schweres Element ist, etwa wie das Wasser, das die Fische einatmen: ein Element von einer gewissen Elastizität, einer gewissen Widerstandskraft, kurz, ein für unsere Augen unsichtbares, aber echtes Element.«
»Ihr erschreckt mich«, wiederholte der Italiener.
Er stand auf und tat einige erregte Schritte durch den Raum. Dann blieb er stehen, schnappte ein paarmal wie ein Fisch nach Luft, schüttelte den Kopf und setzte sich wieder an den Kamin.
»Ich bin versucht, Euch für einen Narren zu halten, und dennoch ist da etwas in mir, das Euch zustimmt. Eure Theorie könnte der Schlußstein meiner Forschungen auf dem Gebiet der in Bewegung befindlichen Flüssigkeiten sein. Ach, ich bedauere es nicht, diese gefährliche Reise unternommen zu haben, die mir das große Vergnügen verschafft, mich mit einem großen Gelehrten unseres Jahrhunderts unterhalten zu können. Aber seht Euch vor, mein Freund: Wenn man mich, dessen Worte nie die Kühnheit der Eurigen erreichten, als Ketzer bezeichnet und zwingt, in die Schweiz zu flüchten, was wird dann aus Euch werden?«