Ein strahlendblauer Himmel breitete sich über Meer und Küste, ein Himmel wie Seide. Die Küste war noch fern, ein schmaler, dunkler Streifen im Dunst des Horizonts, kaum erkennbar im flirrenden Licht, gegen das Angélique ihre an die Dämmerung der Kabine gewöhnten Augen schützen mußte. Hinter sich wußte sie die untersetzte, reglose Gestalt des Matrosen, den Monsieur de Breteuil, Gesandter des Königs von Frankreich, während der Stunden, die sie täglich an Bord verbringen durfte, um die frische Meeresbrise zu atmen und sich von der stickigen Hitze der engen Kabine zu erholen, mit ihrer Bewachung betraut hatte. Er folgte ihr wie ein Schatten, lautlos in seinen Segeltuchschuhen, schweigend und aufmerksam jede ihrer Bewegungen beobachtend, obwohl das Meer ihr keine Fluchtmöglichkeit bot.
Unter der die Augen beschattenden Hand spähte sie nach dem fernen Küstenstreifen hinüber, der sich allmählich deutlicher am Horizont abzuzeichnen begann.
Schon glaubte sie im Grün der Hügel weiße Häuser, einen Kirchturm zu erkennen, oder war es nur täuschende Vorspiegelung, Blendwerk der in der Sonnenglut zitternden Luft, wie sie es oftmals in der Wüste erlebt hatte?
Was mochte sie dort drüben, in der Heimat, erwarten? Mutlos wandte sie sich um. Was ihr an Gewißheit geblieben war, lag hinter ihr. Alles, was sie unternommen hatte, um Joffrey wiederzufinden, war vergeblich geblieben. Unbesonnen, dem Befehl des Königs zum Trotz, hatte sie sich in tödliche Gefahren gestürzt. Sie war in die gierigen Hände des Piraten d’Escrainville gefallen, hatte im Batistan von Kandia hüllenlos die lüsternen Blicke der Männer erdulden müssen, war von den Haremswächtern Moulay Ismaëls bis aufs Blut gepeitscht worden und schließlich in einer Odyssee ohnegleichen, jeden Augenblick der grausamen Vernichtung durch ihre Verfolger, reißende Tiere der Wildnis, Erschöpfung, Hunger und Durst gegenwärtig, wie durch ein Wunder in die Freiheit gelangt, die sie alsbald wieder verloren hatte. Und das alles, weil sie mit leidenschaftlicher Ungeduld einem Phantom nachgejagt war, das immer wieder vor ihren Augen Gestalt anzunehmen schien und dennoch ein Schatten blieb, ein Spukbild, trügerisch vor ihr auf gerichtet und ins Nichts zerfließend, sobald sie nach ihm zu greifen suchte.
Das war die zu schmerzender Gewißheit sich steigernde Ahnung: daß Joffrey nicht mehr lebte. Der geheimnisvolle, riesige Kontinent, der sich jenseits der Sonnenblitze sprühenden, wogenden Ebene des Meeres, jenseits des Horizonts ihrem Blick entzog, hatte ihn spurlos verschlungen. Mit einer Ungewissen, doch störrisch gehüteten Hoffnung war sie von Marseille aufgebrochen. Mit leeren Händen, leerem Herzen kehrte sie zurück ...
Eine Hand berührte ihre Schulter. Sie erschrak aus ihren Gedanken auf. Der Matrose hatte sich ihr genähert.
»Eure Zeit ist um, Madame«, sagte er rauh.
Sie horchte seinen Worten nach, die unversehens eine neue Bedeutung gewannen.
Vielleicht, dachte sie. Vielleicht ...
In Marseille angelangt, ließ Monsieur de Breteuil Angélique, die er in Ceuta verhaftet hatte, im Fort der Admiralität festsetzen.
Solange man sich in dieser Stadt aufhielt, in der einstmals die Marquise du Plessis-Bellière die Polizei des Königreichs so erfolgreich an der Nase herumgeführt hatte, ließ die Sorge den Edelmann nicht los.
So geschah es, daß die einstige Gefangene der Berberesken, die unter so vielen Leiden aus dem Harem Moulay Ismaëls geflohen war, in einer düsteren, engen Zelle die Gewißheit gewann, daß sie ein Kind erwartete.
Dieser Gedanke kam ihr am Tage nach ihrer Einkerkerung in der Zitadelle, als ihr beim Erwachen bewußt wurde, daß sie von neuem wie ein Tier in der Falle gefangen saß.
Das Gefängnis der Admiralität war bar jeder Bequemlichkeit, Trotz des winzigen Stücks blauen Himmels, das durch das Eisengitter des hoch oben in die Mauer eingelassenen Fensters zu sehen war, glaubte Angélique ersticken zu müssen. Die ganze Nacht hindurch hatte sie gegen das schreckliche Gefühl angekämpft, lebendig begraben zu sein, das sie überfiel, sobald sie die Augen schloß, und bei Morgengrauen war sie mit ihrer Nervenkraft am Ende.
Ein Anfall panischer Angst warf sie gegen die Tür, ließ ihre Hände gegen das harte Holz trommeln, ohne Schrei, aber mit einer durch die Furcht entfesselten Kraft.
Der Himmel! Der Himmel! Die reine Luft! Man hatte sie in diesem Grab eingeschlossen, sie, die ihre Tage und Nächte in dem ungeheuren, magischen Raum der Wüste verbracht hatte.
Sie litt an diesem Eingeschlossensein bis zur Agonie. Und wie ein Vogel, den sein Käfig toll gemacht hat, preßte sie sich gegen das unerschütterliche Hindernis aus Holz und Eisen, schlug, schlug zu in fast lautloser Stille, Denn ihre schmalen, blassen Hände, die noch die Spuren der während ihrer Flucht erduldeten Leiden trugen, verursachten an der massiven Pforte weniger Lärm als das Schlagen der Flügel eines Vogels. Als sie den Schmerz ihrer geschundenen Hände spürte, hörte sie auf zu trommeln und wich bis zur Mauer zurück, um sich anzulehnen.
Ihre Blicke glitten von der Tür zur vergitterten Luke. Das Blau des Himmels war wie klares Wasser, nach dem sie dürstete.
Doch Osman Ferradji würde nicht kommen, um sie auf die flachen Dächer zu führen und ihre Augen mit der trügerischen Vision des endlosen Himmelsraums zu füllen.
Die, die sie umgaben, waren Fremde, deren finstere Blicke ihren Argwohn verrieten. Von Paris aus hat-te der Duc de Vivonne, um seine früheren Vergehen wiedergutzumachen, drakonische Anweisungen für ihre Überwachung gegeben. Die Admiralität von Marseille war angewiesen, Monsieur de Breteuil in jeder Weise zu unterstützen. Der Versuch, jemand für sich zu gewinnen, wäre von vornherein vergeblich gewesen, selbst wenn Angélique sich fähig gefühlt hatte, ihre Waffen zu nutzen. Ohnmächtige Müdigkeit lähmte sie, und zuweilen schien es ihr, als habe sie sich nicht einmal auf den Pfaden des Rifs so zerschlagen gefühlt.
Die Fahrt übers Meer von Ceuta nach Marseille, mit einem Aufenthalt in Cadiz, war ein Martyrium gewesen, in dessen Ablauf sie jeden Tag ein wenig mehr von ihrem Mut verloren hatte. Hatte Monsieur de Breteuil, als er sie im Namen des Königs verhaftete, die innere Feder zerbrochen, die sie hätte wieder aufrichten können .?
Sie schleppte sich bis zu ihrem Lager. Es war ein harter Strohsack auf einer Pritsche, aber darüber beklagte sich Angélique nicht. Sie schlief dort besser als auf weichen Kissen, und das einzige Lager, nach dem sie sich gesehnt hätte, um ihre müden Glieder auszuruhen, wäre ein Stück des kurzgeschorenen Rasens gewesen, irgendwo da unten unter den Zedern.
Ihr Blick kehrte zur Tür zurück. Wieviel Türen hatten sich im Laufe ihres Lebens hinter ihr geschlossen, dachte sie. Jedesmal schwerere, jedesmal blindere. War es ein Spiel, das das Schicksal mit ihr trieb, um sie dafür zu bestrafen, daß sie jenes Kind aus Monteloup gewesen war, das mit bloßen Füßen über Wiesen und Felder sprang, so leidenschaftlich verliebt in die Freiheit, daß die Bauern in ihr so etwas wie eine Fee gesehen hatten?
»Du entkommst uns nicht«, sagten die Türen. Und jedesmal, wenn es ihr gelang zu entkommen, richtete sich eine andere, undurchdringlichere vor ihr auf. Nach der Tür der Tour de Nesle die des Königs von Frankreich, die Haremsgitter Moulay Ismaëls und nun von neuem die des Königs.
Würde er der Stärkere sein?
Sie dachte an Fouquet, an den Marquis de Vardes, an den amüsanten Tollkopf Lauzun, die nicht weit entfernt in der Festung Pignerol eingekerkert waren, an alle die, die Jahre hindurch hinter Gefängnisgittern weit weniger ernste Verstöße büßten als die, die sie begangen hatte. Das Gefühl ihrer Einsamkeit und Schwäche bedrückte sie. Mit dem ersten Schritt auf französischem Boden hatte sie eine Welt betreten, in der die Menschen nur nach zwei Kriterien handelten: aus Furcht vor dem König oder aus Liebe zu ihm. Was von beiden auch immer, es galt nur das Gesetz des Herrn.