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»Vierundzwanzig Stunden, Desgray ... Ich verspreche Euch, daß ich mit ihnen fliehen werde.«

»Ihr wollt mir einreden, daß es Euch vor morgen abend gelingen könnte, rund fünfzig Personen der drohenden Verhaftung zu entziehen und weit genug fortzuschaffen, so daß Baumier sie nicht mehr erwischen kann?«

»Ja, es wird mir gelingen .«

Desgray studierte sie einen Augenblick schweigend.

»Was bedeutet dieser Stern, der in Euren Augen aufglänzt?« sagte er, plötzlich sanft. »Oh, ich erkenne ihn wieder! Nichts wird Euch ändern, Marquise der Engel. Also gut, es sei. Ich werde Euch und ihnen den Aufschub geben, um den Ihr mich bittet. Dieses Lächelns wegen, das Euer Gesicht erhellte, als Ihr sagtet: >Es wird mir gelingen.<«

Und da sie sich schon erhob, hielt er sie mit einer Geste zurück.

»Aber denkt daran: vierundzwanzig Stunden. Nicht mehr. Selbst, wenn ich’s wollte, könnte ich ihn nicht verlängern. Man bringt mir hier Respekt entgegen, weil ich die rechte Hand Monsieur de La Reynies, des Polizeipräfekten des Königreichs, bin. Doch ich bin eines besonderen Falles wegen hierhergekommen, des Euren, und habe mich in die Angelegenheiten der Provinz nicht einzumischen. Baumier wird über meine Intervention in der Angelegenheit der Verhaftung >seiner< Protestanten gewiß nicht erbaut sein. Trotzdem werde ich einen Vorwand finden, die Durchführung bis morgen abend aufzuschieben. Länger nicht. Er ist gerissen. Er weiß, daß die holländische Flotte in La Rochelle eintreffen wird. Das Durcheinander, das sich dabei ergeben muß, wäre denen, auf die er es seit langem abgesehen hat, allzu günstig. Vor Ankunft der Flotte müssen sie sich hinter Schloß und Riegel befinden.«

»Ich habe verstanden.«

»Geht hier hinaus«, sagte er, indem er ihren Ellbogen berührte, um sie zu einer anderen Pforte hinter dem Schreibtisch zu führen. »Ich lege keinen Wert darauf, daß man Euch verschwinden sieht. So lassen sich neugierige Fragen am besten vermeiden.«

Angélique blieb jäh stehen.

»Und die Kinder? Ich kann ohne sie nicht gehen.«

»Ihr könnt darauf wetten, daß ich sie schon zu Euch zurückgeschickt habe«, brummte er. »Diese kleine rote Teufelin, die, wie es scheint, Eure Tochter ist, hat uns mit ihrem Geplärr die Ohren gefoltert. Ich sagte dem Ältesten: Verduftet zu eurem Vater, sprecht mit niemand und erwartet die Rückkehr Dame Angéliques.< Das war, während Baumier Euch verhörte. Aber ich wußte, daß ich noch an die Reihe kommen würde.«

»Oh, Desgray«, murmelte sie, »wie gut Ihr seid!«

Er hatte sie einen engen, düsteren Flur entlanggeführt und öffnete nun eine Tür.

Draußen war die Nacht schon hereingebrochen. Ganz nah sprudelte eine Dachrinne Wasserfluten aufs Pflaster. Doch es regnete nicht mehr. Nur ein feuchter, trunkener Wind fuhr in heftigen Stößen durch die Gasse.

Desgray blieb auf der Schwelle stehen. Er nahm Angélique in seine Arme, auf seine Art, ungeniert und unwiderstehlich, jeden Widerstand lähmend.

»Ich liebe Euch«, sagte er. »Jetzt kann ich’s Euch gestehen, denn es hat keine Bedeutung mehr.«

Ihr zurückgeworfener Nacken lag in der Beuge seines harten Arms, und sie fühlte sich ein wenig schwach werden, nicht seiner Nähe wegen, sondern weil sie, von der Nacht und dem Wind ergriffen, aufgehört hatte, ihn zu sehen und zu spüren. Er trat in die Unwirklichkeit zurück. In ihrem tiefsten Innern zählte allein das ungeduldige Verlangen des gefangenen Vogels, dem Käfig zu entkommen und für immer zu entfliehen.

Er begriff, daß seine Arme einen abwesenden Körper umfingen, einen schon fernen Geist. Für diese verfolgte Frau war er, der lebendige, wirkliche oder sich doch wirklich glaubende Mann nichts als ein Geist der Vergangenheit, der sie in seine Gruft hinabzuziehen suchte. Sie floh ihrem Schicksal zu, in dem es für ihn keinen Platz mehr gab.

»Geschaffen für die Weite«, dachte er, »für die Freiheit .«

Über ihre Lippen gebeugt, berührte er sie nicht.

»Adieu, Marquise der Engel«, murmelte er.

Sehr sanft entließ er sie aus seinen Armen. Sie löste sich von ihm, lief einige Schritte, schien sich eines Besseren zu besinnen. Offenbar wandte sie sich ihm zu, Er sah sie schon nicht mehr. Er hörte ihre Stimme: »Adieu, mein Freund Desgray ... Ich danke, danke Euch.«

Angélique lief durch die nächtlichen Gassen. Der Wind trug ihren Lippen einen feinen Salzgeschmack zu. So mußte Lots Weib durch das bedrohte Sodom gelaufen sein, während sich über der Stadt schon die tödlichen Partikelchen sammelten, die sie vernichten würden.

Atemlos erreichte sie das Haus.

Sie waren alle da: die Kinder, Maître Gabriel, die alte Rebecca und Tante Anna, Abigaël, der alte und der junge Pastor.

Sie warfen sich in ihre Arme, umringten sie, bedrängten sie mit Fragen.

»Sprecht«, forderte der Kaufmann. »Man hat Euch verhaftet. Warum? Was hat sich ereignet?«

»Nichts Ernstliches.«

Selbst Tante Anna wiederholte mit meckernder Stimme: »Ihr habt uns schreckliche Angst eingejagt. Wir fürchteten schon, man hätte Euch ins Gefängnis geworfen.«

»Es ist nichts.«

Sie bemühte sich zu lächeln, um sie zu beruhigen. Denn da sie sie nun alle um sich hatte, war sie sicher, daß ihr Vorhaben glücken und daß es ihr gelingen würde, sie zu retten. Sie brachten sie bis zur Küche, wo sie sich setzen mußte. Rebecca stellte ein Glas Wein vor sie hin. Wollte sie diesen, oder zog sie einen andern vor? Rebecca schlug vor, mehrere Flaschen zu öffnen. Ohnehin würde man nicht alle diese schönen Reserven aufs Schiff bringen können.

»Das Schiff?« fragte Maître Gabriel. »Hat man Euch deswegen zurückgehalten. Haben Sie Wind davon bekommen?«

»Es ist nichts Ernstes.«

»Ihr wiederholt ständig, daß es nichts Ernstes sei, aber Ihr seid bleich wie ein Leinentuch. Was gibt es also? Sprecht. Sollen wir Manigault benachrichtigen?«

Sie machten es ihr schwer, sie hinters Licht zu führen. Er legte seine Hand auf Angéliques Schulter.

»Ich war schon im Begriff, zum Justizpalast zu laufen.«

»Damit hättet Ihr einen großen Fehler begangen, Maître Gabriel. Ich habe Gewißheit darüber erlangt, daß diese Herren einen Verdacht hegen, aber noch keine Beweise haben. Bis sie sie finden, werden wir längst davon sein. Ich nehme an, daß Martial und Séverine nichts ausgeplaudert haben.«

»Man hat uns nichts gefragt«, sagte Martial. »Glücklicherweise! Ein großer Herr kam sofort zu uns, nahm Honorine auf den Arm, damit sie nicht mehr weinen sollte, und sagte uns dann: >Geht nach Hause zurück, Dame Angélique wird euch folgen.< Die andern sahen so aus, als ob es ihnen nicht recht sei, aber er brachte uns trotzdem auf die Straße.«

»Ich glaube, er war aus Paris«, ließ sich Séverine mit glänzenden Augen vernehmen. »Die andern hatten Respekt vor ihm.«

Angélique bestätigte es:

»Dieser Herr ist in der Tat ein Freund von mir und hat mir versprochen, daß wir diese Nacht ruhig schlafen können.«

»Ihr habt Freunde bei der Pariser Polizei, Dame Angélique?« fragte Maître Gabriel aufbrausend.

Angélique fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Ja. Es ist ein Zufall, aber es ist so. Und Ihr seht, daß derlei recht nützlich sein kann. Ich verspreche Euch, daß ich Euch morgen alles erzählen werde. Aber heute bin ich müde, und ich glaube, daß die Kinder zu Bett gebracht werden müßten.«

Als sie sich zurückzogen, bat sie Abigaël, noch zu bleiben. »Ich muß mit Euch reden.«

Sie warteten, bis die Stille sich auf das große Haus herabgesenkt hatte und Honorine eingeschlafen war. Angélique öffnete im Winkel der Küchennische eine Truhe und zog ihren wärmsten Mantel heraus, desgleichen ein Wolltuch, das sie über ihre Haube legte und energisch unter ihrem Kinn verknotete.

»Ich habe Maître Berne nichts von meinem Plan erzählen wollen«, sagte sie zu Abigaël, »weil er mich sicher daran gehindert hätte, ihn auszuführen. Aber ich bin die einzige, die handeln kann. Indessen ist es nötig, daß Ihr davon wißt.«