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Diese Reise ans Ende der Nacht konnte nicht weit von dem entfernt sein, was man nach dem Tode empfand: ein endloses, qualvolles Suchen in einem unbekannten Land.

Osman Ferradji, der große schwarze Magier, hatte es so ausgedrückt:

»Man wird sich nicht immer des Todes bewußt. Manche finden sich, ohne zu wissen, warum, inmitten unbekannter Finsternisse und müssen sich ihren Weg suchen, nur durch das im Laufe ihrer irdischen Erfahrungen erworbene Licht geführt. Haben sie auf Erden nichts erworben, verirren sie sich in der Welt der Geister von neuem ... So sagen es die Weisen des Orients.«

Osman Ferradji! Sie sah ihn vor sich, schwarz wie die Nacht, und er sprach zu ihr:

»Warum bist du vor diesem Menschen geflohen? ... Dein Schicksal und das seine kreuzen sich immer wieder.«

Angélique stützte sich mit ihren Händen auf. »Wenn dein Schicksal das meine kreuzen muß«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor, »dann muß es mir glücken.«

Der Zufall allein hatte den Rescator nicht an dieses Gestade führen können. Gewiß bedeutete es etwas. Es bedeutete, daß Angélique ihm begegnen mußte. Trotz des Sturms, des Meers, der Nacht würde sie also zu ihm gelangen. Eine außerordentlich gegenwärtige, rauhe Stimme flüsterte an ihrem Ohr: »Bei mir werdet Ihr schlafen. Bei mir gibt es Rosen.« Und der Zauber Kandias und jenes unerklärlichen Augenblicks, in dem sie an der Seite des maskierten Mannes, der sie soeben gekauft hatte, die Lust verspürte, für immer bei ihm zu bleiben, kehrte zu ihr zurück.

Angélique raffte sich auf.

Sie stellte fest, daß es aufgehört hatte zu regnen. Doch der Wind schien dafür noch an Wucht gewonnen zu haben. Er packte sie an den Schultern, stieß sie vorwärts, warf sich ihr sodann von vorn entgegen, und sie mußte sich Schritt für Schritt ihren Weg erkämpfen, wie von einer menschlichen Kraft zurückgehalten.

Wenige Augenblicke später überfiel sie die Furcht, die falsche Richtung eingeschlagen zu haben. Sie drehte sich wie eine Marionette um sich selbst und vermochte sich plötzlich nicht mehr zurechtzufinden. Aber der Himmel begann an einigen Stellen lichter zu werden, und unversehens entdeckte sie im Osten die rötliche Flamme des Laternenturms. Auf der anderen Seite schimmerte ein zweites, kleineres Licht auf der äußersten Spitze der Ile de Ré.

Angélique fand zu ihrer klaren Überlegung zurück. Sie erriet die vom Wind gepeitschte, aber von den Nebeln befreite Ebene um sich. Sie konnte schneller gehen. Als sie in der Nähe der Bucht ankam, in der sie nachmittags das ankernde Schiff gesehen hatte,

verlangsamte sie ihre Schritte.

»Und wenn er in See gegangen ist?« fragte sie sich plötzlich.

Dann faßte sie von neuem Hoffnung. So viele dramatische Dinge hatten sich in den letzten Stunden ereignet - die Rückkehr der Kinder, ihre Verhaftung, das Verhör Baumiers, die Begegnung mit Desgray -, daß sie unter dem Eindruck stand, Tage durchlebt zu haben. Als sie die Piraten bemerkt hatte, waren sie mit den Vorbereitungen zum Kalfatern beschäftigt gewesen. Das bedeutete, daß am Schiff Reparaturen vorzunehmen waren und daß sie unmöglich mitten in der Nacht vor dem wachsenden Sturm hatten flüchten können.

Überdies tauchte nun auch ein stärkeres Licht auf, das wie ein großer Stern über ihr zu schweben schien. Sie begriff, daß es die an der Mastspitze der Gouldsboro schwankende Laterne war.

Trotz ihres Wunsches, möglichst wenig aufzufallen, zogen es die Piraten offenbar vor, klar zu sehen, denn die Bucht, in die sie sich geflüchtet hatten, war kaum geschützt, und das Schiff zerrte heftig an seinen Ankerketten.

Auf Deck waren die Umrisse der Wachtposten zu erkennen, die sich, so gut es ging, gegen das Unwetter schützten.

Angélique verharrte eine ganze Weile beobachtend am Rande der Klippe.

Selbst unsichtbar, betrachtete sie das vom Ungewissen Licht der schwankenden Laterne überhuschte Schiff - ein wahres Gespensterschiff - mit seinen gegen den Wind an den Masten festgezurrten Segeln, das im schäumenden Kochen der anstürmenden Flut wie auf dem Grunde des Kessels einer Zauberin schaukelte.

Vor kurzem noch, als sie La Rochelle verlassen hatte, war es ihr einfach erschienen, sich auf den Weg zu machen und zu diesem Ort wie zu dem Hafen zu laufen, in dem die einzig noch verbleibende Hilfe auf sie wartete.

Jetzt erst wurde ihr der Wahnwitz ihres Unternehmens klar: sich freiwillig in die Gewalt dieser Gesetzlosen zu begeben, sich dem gefährlichen Piraten zu nähern, den sie beleidigt und lächerlich gemacht hatte, ihn in einer Angelegenheit um Hilfe zu bitten, die nicht nur schwierig, sondern für ihn auch ohne Gewinn war! ... Unsinnig das eine wie das andere und ohne Aussicht, zu etwas anderem als zu einer Katastrophe zu führen. Aber auch in ihrem Rücken drängte die unausweichliche Katastrophe. Und sie hatte sich schon zu weit vorgewagt.

Unter ihr tanzte ein zweites Licht, der Schein eines im Schutze der Klippenhöhle angezündeten Feuers, neben dem Matrosen Wache hielten.

Dieselbe Hand, vielleicht die Osman Ferradjis, die Angélique schon zuvor aus ihrer Apathie gerissen hatte, stieß sie von neuem voran. »Geh! Geh! Dort ist dein Schicksal ...«

Hoffnung und Schrecken teilten sich in ihr Herz. Aber sie zögerte nicht länger, und da sie nun auf den Pfad stieß, den wenige Stunden vorher die Fischer von Saint-Maurice und ihre Tiere benutzt hatten, begann sie ihn vorsichtig hinabzusteigen.

Sie erreichte den Strand, Ihre Füße versanken in dem perlmuttern schimmernden Kies, der aus Millionen zerbrochener Muscheln bestand. Mit Mühe bewegte sie sich vorwärts.

Von hinten packten sie Hände um die Taille, an den Handgelenken und verurteilten sie zur Unbeweglichkeit. Eine trübe Laterne wurde ihr vors Gesicht gehalten. Die sie umgebenden Piraten sprachen in einer ihr unbekannten Mundart. Sie unterschied ihre braunen Gesichter unter blutroten Tüchern, ihre kräftigen Zähne und das Funkeln der goldenen Ringe, die einige von ihnen im Ohrläppchen trugen.

Dann schrie sie auf, einen Namen ihnen in die Gesichter schleudernd, hinter dem sie sich wie hinter einem Schild verbarg:

»Der Rescator! ... Ich will ihn sprechen, Euren Anführer ... Monsieur le Rescator!«

Sie wartete, an die Holzwand gelehnt, um dem heftigen Schwanken des Schiffes besser widerstehen zu können.

Die Wächter vom Strand hatten sie in eine türkische Barke steigen lassen, die die Wellen wie eine Nußschale hin und her warfen, und es war ihr nicht recht klar, dank welcher Kraft es ihr schließlich gelungen war, sich in der tintigen Nacht an der schaukelnden Strickleiter an Deck zu ziehen.

Jetzt war sie an ihrem Ziel angelangt. Man hatte sie in eine Art Kombüse geschoben, zweifellos das Reich des Kochs, denn sie war von Schwaden Fettgeruchs durchzogen.

Zwei Männer bewachten sie. Ein dritter trat ein, der unter seinem durchweichten Federhut eine Maske trug und dessen untersetzte, stämmige Gestalt sie alsbald erkannte.

»Seid Ihr der Kapitän Jason?«

Sie sah ihn auf Deck des königlichen Flaggschiffs La Royale vor sich. Kapitän Jason, der erste Offizier des schrecklichen Rescator, erteilte dem Herzog de Vivonne, Großadmiral der Flotte König Ludwigs XIV, seine Befehle. Heute wirkte er weit weniger prächtig, aber er bewahrte sich noch immer das sichere Auftreten des Stellvertreters eines Herrn, dessen Willen sich letzten Endes doch als der stärkere erwies.

»Woher kennt Ihr mich?« fragte er nach einem Moment der Überraschung.

Durch die Schlitze der Maske musterte sein argwöhnischer Blick die durchnäßte, zerzauste und zerlumpte Bäuerin, die man ihm präsentierte.

»Ich bin Euch in Kandia begegnet«, antwortete sie.

Sein Mienenspiel drückte Erstaunen aus. Allem Anschein nach erkannte er sie nicht.

»Sagt Eurem Herrn, Monseigneur le Rescator, ich sei ... jene Frau, die er vor vier Jahren in Kandia für fünfunddreißigtausend Piaster gekauft hat ... in der Nacht des Brandes.«