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Auf diesen Gestaden waren die physische und moralische Kraft eines Colin Paturel, seine grenzenlose Güte, seine scharfe Intelligenz wertlose Dinge. Jeder Narr konnte ihn verachten, vorausgesetzt, daß er Spitzenmanschetten und Perücke trug.

Auf diesen Gestaden war Colin Paturel ohne Macht. Er war nur ein armer Seemann. Selbst die Erinnerung an ihn vermochte Angélique nicht aufzurichten. Endgültiger als durch den Tod war er aus ihrem Leben verschwunden.

Sie rief ihn mit halber Stimme:

»Colin! Colin, mein Bruder!«

Und ihre Not wurde so groß, daß sie in kalten Schweiß ausbrach und gegen eine Ohnmacht ankämpfen mußte.

In diesem Augenblick wurde die Ahnung in ihr wach, daß sie vielleicht von ihm schwanger war.

In Ceuta hatte sie das Ausbleiben gewisser natürlicher Vorgänge ihrer durch übermenschliche Anstrengungen angegriffenen Gesundheit zugeschrieben, aber nun, nach so langer Zeit, drängte sich eine andere Erklärung auf.

Sie erwartete ein Kind.

Ein Kind Colin Paturels! Ein Kind der Einöde! Reglos auf ihrem Lager ausgestreckt, ließ sie in sich den Zweifel zur Gewißheit werden, ließ sie sich von der unglaublichen Entdeckung überwältigen .

Erstaunen zuerst, dann ein seltsamer Friede und endlich Freude.

Es hätte Verdruß sein können, das Gefühl der Schande, ein Übermaß an Entmutigung.

Es war Freude.

Sie war noch zu nahe der Einöde, zu nahe dem Burnus der entflohenen Gefangenen, um schon wieder ganz in die Livree der großen Dame des Hofes hineingewachsen zu sein. Ein Teil von ihr preßte sich noch gegen das Herz des Normannen wie in jenen lichtdurchwirkten, goldflimmernden Nächten, in denen die Liebe, die sie zueinander trieb, gesättigt gewesen war vom Geschmack des Todes und der Ewigkeit.

Unter den eng geschnürten Roben nach französischer Mode, unter den bestickten Mänteln, unter dem in Ceuta wiedergefundenen Schmuck verbargen sich noch ihre rauhe Haut, die Spuren der Brandwunde an ihrem Bein, die verheilten Narben ihres gepeitschten Rückens.

Die Sohlen ihrer in eleganten Schuhen steckenden Füße trugen noch die Hornhaut, die sich auf den steinigen Pfaden des Rifs gebildet hatte. Sie dachte, freudig erregt, daß von nun an die Spur der unglaublichen Odyssee unverwischbar sein würde, durch dieses Kind, das in ihr wuchs. Es würde blond sein, stämmig und kraftvoll.

Was tat es, daß es ein Bastard war. Der Adel dessen, den sie den »König« der Gefangenen genannt hatten, verband sich mit den Tugenden der Kreuzritter, deren Blut in den Adern Angéliques de Sancé de Monteloup floß.

Ihr Sohn würde seine blauen Augen und seine Kraft besitzen. Ein kleiner, göttlicher Herkules, vom Strahlenglanz der Sonne des Mittelmeers wie von einer Aureole umgeben!

Er würde schön sein wie das erste auf Erden geborene Kind.

Sie sah ihn vor sich. Für ihn, durch ihn würde sie zu ihrer Kraft zurückfinden und kämpfen, um ihm die Freiheit zu gewinnen.

Lange lag sie so, ganz ihrer ein wenig närrischen Träumerei hingegeben, und sprach zuweilen halblaut vor sich hin.

»Du bist vergebens vor mir geflohen, Colin«, sagte sie. »Du hast mich vergebens verschmäht und zurückgestoßen. Du wirst trotzdem ein wenig bei mir bleiben, Colin, mein Kamerad, mein Freund ...«

Einige Tage später verließ eine Karosse mit vergitterten Türen und mit von schwarzen Vorhängen verhängten Fenstern Marseille und schlug die Straße nach Avignon ein. Eine stattliche Eskorte von zehn Musketieren begleitete sie.

Monsieur de Breteuil, der drinnen neben Angélique saß, drängte zur Eile.

Man hatte ihm soviel von der unglaublichen Geschicklichkeit und Bosheit Madame du Plessis-Bellières erzählt, daß er unaufhörlich darauf gefaßt war, sie sich jäh in ein Nichts auflösen zu sehen, und ihn plagte nur ein Gedanke: sich möglichst schnell seines Auftrags zu entledigen. Daß die junge Frau ihre Erschöpfung überwunden zu haben schien, beunruhigte ihn. Daß sie sich aufrecht hielt und sich zuweilen unverschämt gegen ihn benahm, ließ ihn das Schlimmste fürchten. Erwartete sie etwa Hilfe von ihren Komplizen?

Es war nicht zuviel gesagt, daß er sich während der Übernachtungen quer vor ihrer Tür ausstreckte und nur mit einem Auge schlief.

Vor der Durchquerung jedes Waldes, in dem man Gefahr lief, von zur Befreiung der Gefangenen entschlossenen Banden angegriffen zu werden, schlug er sich mit dem Gouverneur der nächstgelegenen Stadt wegen Gestellung zusätzlicher Begleitmannschaften herum. Die Kavalkade glich immer mehr einer militärischen Expedition. Müßiggänger drängten sich in den Städten um die Karosse, um herauszufinden, wer soviel Aufwand benötigte.

Monsieur de Breteuil tobte und bezahlte Gendarmen, die die Menge mit Hellebardenstößen zerstreuen mußten, was die Neugier und die Ansammlungen nur noch vermehrte.

Da er nicht mehr schlief und ständig von Unruhe gepeinigt wurde, sah Monsieur de Breteuil nur noch einen Ausweg aus seinen Qualen: Eile. Kaum, daß man nachts die Fahrt für einige Stunden in einer Herberge unterbrach, deren Gäste man ausquartierte und deren Wirtsleute man nicht aus den Augen ließ. Tagsüber wurden die abgetriebenen Pferde unaufhörlich durch neue ersetzt, die ein vorausgeschickter Kurier bestellte, um Wartezeiten auf den Poststationen zu vermeiden.

Von den Stößen des Wagens auf den holprigen Straßen durchgeschüttelt und erschöpft von der unsinnigen, unaufhörlichen Hast, protestierte Angélique:

»Wollt Ihr mich töten, Monsieur? Ich brauche ein paar Stunden Ruhe. Ich kann nicht mehr.«

»Plötzlich so zart, Madame?« spottete Monsieur de Breteuil. »Habt Ihr im Königreich Marokko nicht schlimmere Anstrengungen überstanden?«

Sie wagte ihm nicht zu sagen, daß sie schwanger war.

An die Bank oder den Türgriff geklammert, halb erstickt vom Staub, wünschte sie sich nichts anderes als endlich am Ziel dieser teuflischen Reise anzulangen.

Am Abend eines besonders aufreibenden Tages -sie nahmen eben in vollem Galopp eine Kurve auf der Kuppe eines Hügels - schien der Wagen plötzlich nur noch auf zwei Rädern zu rollen, dann schwankte er und stürzte um. Dem Kutscher, der den Unfall hatte kommen sehen, war eben noch Zeit geblieben, sein Gespann zu zügeln. Der Schock war weniger heftig als befürchtet, aber Angélique, die der Aufprall von ihrem Sitz geschleudert und zwischen Wagenwand und der losgerissenen Bank eingekeilt hatte, begriff sofort, was ihr geschehen war.

Man zog sie rasch aus der Karosse und bettete sie ins Gras zu Seiten der Straße.

Monsieur de Breteuil beugte sich mit bleichem Gesicht über sie. Wenn Madame du Plessis starb, war ihm der Zorn des Königs gewiß. In einer jähen Ahnung wurde ihm klar, daß es um seinen Kopf ging, und er glaubte schon die Schneide der Axt des Henkers kalt in seinem Nacken zu spüren.

»Es ist Euch doch nichts geschehen, Madame?« flehte er. »Der Sturz war nicht der Rede wert!«

Mit völlig veränderter, verzweifelter, verstörter Stimme schrie sie ihm zu:

»Ihr seid schuld! Ihr und Euer sinnloses Jagen! Ihr habt mir alles genommen! Ich habe alles verloren durch Eure Schuld, Elender!«

Ihre Hände schnellten vor, und ihre Fingernägel zerrissen seine Wangen.

Auf einer improvisierten Bahre wurde sie von den Soldaten ins nächste Dorf geschafft. Die bestürzten Männer sahen die Blutflecken auf ihrem Kleid und hielten sie für ernstlich verletzt. Doch der Chirurg, den man zu Rate zog, erklärte nach der Untersuchung, daß der Fall ihn nicht betreffe und daß man eine Hebamme holen solle.

Angélique lag im Hause des Bürgermeisters. Sie fühlte ihre Lebenskräfte mit jenem anderen Leben schwinden.

Ein Geruch nach Kohlsuppe durchzog die Räume des großen, bürgerlichen Hauses und steigerte ihre Übelkeit und ihren Ekel. Das rote, schwitzende, von einer bäuerlichen Haube umrahmte Gesicht der Hebamme neigte sich von Zeit zu Zeit über sie und ließ sie die Augen schließen. Die ganze Nacht kämpfte die gute Frau hartnäckig, um dieses seltsame, seiner Körperlichkeit fast schon entflohene Wesen mit dem von honigfarbenem Haar umflossenen, wunderlich gebeizten Gesicht zu retten. Der Sonnenbrand hob sich in bräunlichen Flecken von dem wachsigen Teint ab, die Augen verloren ihren Glanz, und in den Mundwinkeln sammelte sich malvenfarbener Schleim. Die Hebamme erkannte die Zeichen des Todes.