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Spürte er nicht die Drohung der Unruhen, die Spannung des Landes? Entging ihm die Atmosphäre der Sinnlichkeit, des Hasses, des Blutes hier im Schlosse selbst?

»Die Messe? Ihr seid verrückt! Soldaten beschmutzen meine Wohnung. Ich bin gefangen, gedemütigt ... ich bin verflucht!«

Sie hatte mit leiser Stimme gesprochen, fast ohne es zu wissen, ein wenig verstört, den Blick auf die Augen des jungen Mannes mit dem Kindergesicht gerichtet, als wolle sie sich in seine Arglosigkeit flüchten. Eine ernste Leidenschaft leuchtete auf den zarten Zügen des Abbé de Lesdiguière.

»Um so mehr Grund, die Messe zu lesen«, sagte er sanft.

Er nahm eine Hand Angéliques und drückte sie mit Inbrunst, während unendliche Nachsicht seine schönen Augen füllte.

Plötzlich schwach, wandte sie ihren Blick ab und schüttelte mehrere Male den Kopf, wie um sich aus bedrängenden Schleiern zu befreien, dann gab sie nach:

»Nun gut! Bleibt ... und lest Eure Messe, mein kleiner Abbé. Sicher wird es uns allen gut tun.«

Es war die Zeit der Rückkehrer. Zwei Tage später kam Flipot aus Italien, wo er dem Sohn des italienischen Edelmannes, von dem er in Livorno gekauft worden war, die Anfangsgründe des Gassenjargons beigebracht hatte. Auf einem Maultier reitend, hatte er sechs Monate gebraucht, um die Strecke zurückzulegen. Von seinem Dienst in einem prächtigen Palast an der adriatischen Küste brachte er die übertriebenen, geschwätzigen Allüren eines Dieners aus der Komödie mit. Und von seiner Pilgerfahrt über verschneite Alpenpässe und die staubigen Straßen der französischen Provinzen waren ihm eine sonnenverbrannte Haut und breitere Schultern geblieben. Er war ein hübscher, redegewandter Bursche mit spöttischer, verschlagener Miene geworden, der unter den Bettlern des Pont-Neuf an seinem Platze gewesen wäre.

»Wärst du nicht am liebsten nach Paris zurückgekehrt?« fragte ihn Angélique.

»Ich bin dort gewesen, um mich nach Euch zu erkundigen. Als man mir sagte, daß Ihr auf Euren Ländereien wärt, habe ich mich wieder auf die Strümpfe gemacht.«

»Warum bist du nicht in Paris geblieben?« beharrte sie. »Gewitzt, wie du bist, hättest du eine gute Stelle finden können.«

»Ich bin lieber bei Euch, Frau Marquise.«

»Bei mir ist nichts mehr sicher, Flipot. Der König hält mich in Ungnade. Du bist ein Pariser Kind, du wärst dort besser aufgehoben.«

»Wo sollte ich schon hingehen, Frau Marquise?« meinte der einstige Lehrling des Hofs der Wunder mit bekümmerter Miene. »Ihr seid meine ganze Familie. Ihr seid sozusagen meine Mutter gewesen, seitdem Ihr mich in der Tour de Nesle verteidigt habt, wenn sie mich verprügeln wollten. Ich kenne mich. Wenn ich zum Pont-Neuf zurückgehe, werde ich wieder anfangen, Börsen zu stehlen.«

»Ich hoffe, du hast diese schlechte Gewohnheit aufgegeben.«

»Das«, sagte Flipot, »ist eine andere Sache. Ich muß schon auf meine Hand aufpassen. Schließlich hab’ ich mein Meisterstück gemacht, und wovon hätte ich während der ganzen Reise leben sollen? ... Aber wenn man nur dieses Handwerk zum Leben hat, wird’s bald riskant. Am Hof der Wunder gab’s einen Alten, ich glaube, es war der Vater Hurlurot, der uns jeden Morgen sagte: >Denkt dran, Kinder, daß ihr geboren seid, um gehängt zu werden.< Mir hat’s nicht gefallen, und es gefällt mir noch immer nicht. Von Zeit zu Zeit ein kleiner Rückfall, das geht noch an, aber ich ziehe es vor, in Eurem Dienst zu bleiben.«

»Wenn es so ist, behalte ich dich gern, Flipot. Wir beide haben genug gemeinsame Erinnerungen .«

Am gleichen Abend noch erschien ein Hausierer im Schloß. Eine Dienerin benachrichtigte Angélique, daß ein Mann sie im Auftrag »ihres Bruders Gontran« zu sprechen wünsche. Sie fühlte sich erblassen und ließ sich den Namen mehrmals wiederholen. Der Mann kniete in der Küche vor seinem aufgeknüpften Bündel, das der Begehrlichkeit der Dienstboten seine Kramwaren darbot: Bänder, Nadeln, grellbunte Bilder, Medikamente. Er führte auch eine ganze Malerausrüstung mit sich.

»Habt Ihr wirklich gesagt, Ihr kämt im Auftrag meines Bruders Gontran?« fragte Angélique.

»Ja, Frau Marquise. Euer Bruder, der zu unserer Zunft gehört, hat mich beauftragt, Euch etwas zu bringen, was er mir anvertraute, als ich zu meiner Tour durch Frankreich aufbrach. Er sagte mir: >Wenn du ins Poitou kommst, geh zum Schloß Plessis-Bellière in der Gegend von Fontenay. Wende dich an die Schloßherrin und übergib ihr dies von ihrem Bruder Gontran.<«

»Wie lange habt Ihr meinen Bruder nicht gesehen?«

»Seit mehr als einem Jahr.«

Alles erklärte sich. Während er von seiner Rundreise durch die Landschaften der Bourgogne, der Provence, des Roussillon, von seinen langen Aufenthalten in den Pyrenäen und an den Ufern des meergrünen Ozeans erzählte, kramte er in einer ledernen Satteltasche und zog eine sorgfältig in öldurchtränkte Leinwand gewickelte Rolle heraus.

Angélique nahm sie. Sie mahnte ihre Leute, gut für den Hausierer zu sorgen, und versicherte ihm, daß er so lange, wie er nur wolle, unter ihrem Dach bleiben könne.

In ihrem Zimmer zog sie aus der Umhüllung eine Leinwand, die ihr, nachdem sie sie entrollt hatte, die wunderbar lebendigen Porträts ihrer drei Söhne zeigte. Im Vordergrund stand Cantor mit seiner Gitarre, in einem Kostüm, dessen Grün sich in seinen Augen wiederholte. Der Maler hatte deren besonderen, zugleich nachdenklichen und amüsierten Ausdruck wiederzugeben vermocht. Er war es, der verschollene Sohn, und solche Vitalität ging von seinem Wesen aus, daß man an seinen Tod nicht glauben wollte. »Ich werde immer leben«, schien er zu versichern.

Florimond war in Rot. Gontran hatte ihm - durch welche Voraussicht? - das Jünglingsgesicht gegeben, das ihm heute eignete: fein gemeißelt, intelligent, voller Leidenschaft. Sein schwarzes Haar setzte einen dunklen Ton in die Lebhaftigkeit der Farben dieses bezaubernden Werks und betonte die Grüns und Rots, die kindlich-rosigen Gesichter und das seidige Gold der Locken des kleinen Charles-Henri. Er befand sich zwischen seinen älteren Brüdern, ein Baby noch in langem, weißem Kleidchen, einem Engel ähnlich. Er streckte seine rundlichen Hände aus, um die Arme Cantors und Florimonds zu berühren, aber die beiden schienen es nicht zu bemerken. Die ein wenig starre Anordnung der Gestalten hatte etwas Symbolisches an sich, das Angéliques Herz zusammenzog, als ob der Maler - wer würde jemals von den unergründlichen Vorahnungen dieser Künstlerseele wissen? - die verschiedenen Herkünfte der Dargestellten hätte unterstreichen wollen: vorn die beiden Ältesten, die Söhne des Grafen de Peyrac, kühn und wie erhellt von einem Funken Leben, der Jüngste, Sohn des Marschalls Philippe du Plessis, ein wenig hinter ihnen, köstlich schön, aber allein.

Dieses Eindrucks wegen, der sie bedrückte, ließ Angélique ihren Blick auf dem Abbild des Kleinsten ruhen. »Ich weiß, wem er ähnelt«, dachte sie plötzlich. »Meiner Schwester Madelon!« Und dennoch war es das Porträt Charles-Henris. Feinheiten eines inspirierten Pinselstrichs, die einer unbewegten Vision die bewegenden Nuancen des Lebens verliehen. Die Hand, die diesen Pinsel gehalten hatte, war leblos zurückgesunken. Tod. Leben. Zerstörung und Dauer. Vergessen ... Wiederauferstehung ...

Vor diesem Bild glaubte Angélique wie im Drehen eines Prismas, wie im Ziehen der Wolken über das Land die wechselnden, düsteren und strahlenden Aspekte ihres Lebens zu sehen und zu ahnen, daß mancherlei ihr noch verborgen blieb.

Florimond hatte keine Fragen gestellt. Die Anwesenheit der Soldaten im Park und des Kapitäns in den Räumen seiner Mutter hatte er ohne jede Bemerkung hingenommen.

Seit der Nacht, in der die Leute von Plessis ihn bedroht hatten, war Montadours Verhalten zu einer Mischung von ohnmächtiger Wut, entfesselter Arroganz und düsterem Brüten geworden. Er verschwand ganze Tage, seinen Leutnant als Wachhabenden im Schloß zurücklassend, um nach Hugenotten zu jagen. Doch das Wild verschwand in den Wäldern, und zuweilen fand man Leichen von Dragonern längs der Wege. Dann hängte Montadour den ersten Bauern, der ihm in die Quere kam, auf, und oftmals stellte es sich heraus, daß es ein Katholik war. Wo er ging und stand, stieß er auf Drohungen.