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Meister Valentin kam fast jeden Tag. Kehrte er dazwischen zu seiner Mühle zurück? Ging er fischen, oder jagte er im Schilf? Oft erschien er mit vollen Netzen oder mit buntfedrigen Vögeln, die mit baumelnden Köpfen von einem Stecken herabhingen.

Die Bewohner der Hütte sprachen wenig. Der kranke Abbé schlief oben im Heuschober. Seine Verletzung war dank Kräuterumschlägen geheilt. Aber er hatte oft Fieber. Er war wie ein schwächlicher, sanfter Schatten zwischen zwei anderen, gleichfalls an ihre Träume verlorenen Schatten. Drei Wesen, die durch Welten getrennt schienen: eine schöne, in Tragik verstrickte Frau, ein schweigsamer Müller mit trägem, wunderlichem Geist, ein kleiner höfischer Abbé, blaß und fröstelnd, alle drei eingeschlossen in die Stille der toten Gewässer.

Angélique schlief auf dem Lager aus Farnkräutern unter einem schweren Schafspelz. Ihr Schlaf war tief und traumlos, wie sie ihn bisher nicht gekannt hatte. Das Drama schien keinerlei Spuren in ihrer Physis zurückgelassen zu haben. Wenn sie erwachte, hörte sie draußen das Geräusch des auf die glatte Oberfläche des Sumpfes fallenden, sein leises Raunen ins Unendliche vervielfältigenden Regens. Oder auch das Quaken der Frösche, die spitzen Schreie der Wasserratten, den Ruf der Nachtvögel, das vielfältige Geflüster des sumpfigen Dschungels. Und eine Art Frieden kam über sie.

Wenn Valentin da war, sah sie auch ihn des Nachts in seinem Lehnstuhl aus Stroh und poliertem Holz. Seine Augen waren offen, und der bläuliche Widerschein der Flammen zuckte über seine groben, ausdruckslosen Züge. Zuweilen leuchtete es kurz in der Tiefe seiner Augen auf. Sie hatte den Eindruck, daß er sie beobachtete. Dann schloß sie die Lider und schlief wieder ein.

Meister Valentin bedeutete ihr nicht mehr als die Nähe eines vertrauten Menschen aus der Vergangenheit, der ihr diente. Er schnitt die Torfstücke für das Feuer zurecht, melkte die Ziege, schob die Milch zum Gerinnen in das Loch unter dem Kaminstein, bereitete Suppe und Fisch und ließ die Glut aufflammen, um die Soße nicht zu scharf werden zu lassen. Er hätte einen Koch abgegeben, würdig, unter dem großen Vatel zu dienen. Manchmal brachte er ihr ein Körbchen voller mit Käse gefüllter, aus feinstem Mehl zubereiteter kleiner Kuchen, wie man sie zu Ostern auf dem Lande aß, mit schwarzer Kruste und goldbraunem Teig. Es konnte geschehen, daß Angélique mit plötzlicher Gier über sie herfiel. Sie hatte oft Hunger. Ein Licht, gleich einem Lächeln, glomm in den undurchdringlichen Augen des Mannes auf, während er zusah, wie sie ihre weißen Zähne in den Teig grub. Unangenehm berührt hielt sie inne und trat ins Freie, um diesem Blick zu entgehen.

Als sie auf die kleine Sumpfinsel gekommen war, hatte noch der Winter regiert, und die überschwemmte Erde erinnerte an die Wattlandschaft früherer Zeiten, deren salzige Schlammwogen von Seeigeln, Mollusken und fossilen Muscheln wimmelten. Noch immer kamen bestimmte Meervögel, um in den Schilfgürteln zu nisten. Die hohen, von Holländern unter Heinrich IV. gepflanzten Pappeln veränderten den Meerescharakter der Landschaft, wie auch die Erlen, Espen und Eschen, die wie mit einer schwarz tuschenden, spitzen Feder auf die Lichtreflexe des Wassers oder auf die zarten Nebelschleier von der durchsichtigen Klarheit des Porzellans gezeichnet waren. Raben krächzten laut, wenn sie über die trost-lose Einöde dahinstrichen. Unten im Schilf verlor sich Angéliques Blick im Gewirr der Zweige, der hoch aufgeschossenen, aus ihrem Abbild auf dem Wasser wachsenden Stämme, die die unentwirrbare Struktur des Sumpfes bildeten. Diese Radierung in Schwarz und Weiß faszinierte ihr verzweifeltes Herz, und plötzlich glaubte sie in den ziehenden Nebeln Florimond, Charles-Henri und Cantor vorübergleiten zu sehen, drei kleine, verlorene, nur in ihren Umrissen erkennbare Gestalten, die einander an den Händen hielten. Sie schrie auf:

»O meine Söhne ... meine Söhne!«

Sie schrie, und ihre Stimme verlor sich in der grenzenlosen Weite, bis der Abbé de Lesdiguière durch den Schlamm gestolpert kam und ihren Arm ergriff, um sie sanft zum Haus zurückzuführen.

»Du hast deine Söhne geopfert«, raunte in ihr eine dumpfe Stimme. »Wahnsinnige! Du hättest niemals Versailles verlassen, niemals in die Länder des Orients gehen dürfen, die dich verdorben haben. Du hättest dich dem König unterwerfen müssen. Du hättest dich vom König nehmen lassen müssen .«

Und sie brach in wildes, trockenes Schluchzen aus, während sie leise nach ihnen rief und sie um Vergebung bat.

Der Frühling kam früh und überschwenglich, bedeckte die Sumpfebenen mit frischem Grün, begrub die trostlose Landschaft unter der Pracht seines Schmucks und gab den lang sich hinziehenden Kresseteppichen ihren meergrünen Schimmer wieder.

Die Seelilien mit ihrem Duft nach Wachs und Honig erblühten von neuem. Die Libellen begannen die Wasserflächen mit ihrem zarten Flug zu furchen, bevor sie sich, um sich auszuruhen, auf Vergißmeinnicht-und Minzebüscheln niederließen. In den Teichen tummelten sich wilde Enten, Wiedehopfe, dicke aschfarbene Gänse, scheue Reiher. Hinter dem Vorhang der Zweige sah man lautlose Barken vorüberziehen. Gleich dem Forst ist der Sumpf eine Landschaft, die hinter scheinbarer Verlassenheit ein vielfältiges, wimmelndes Leben verbirgt. Die Hüttenbewohner, Abkömmlinge der Colliberts, bildeten unter sich eine volkreiche, unabhängige Republik. »In den Sümpfen gibt es böse Leute, die weder dem König noch dem Bischof Steuern zahlen«, hatte einstmals die Amme erzählt .

Man war erst im März, aber das Wetter gab sich ungewöhnlich milde.

»Der Winter wird nicht allzu grausam gewesen sein«, sagte Angélique eines Abends zu Meister Valentin. »Es sieht so aus, als seien die guten Geister mit uns. Ich werde bald das Moor verlassen müssen.«

Der Müller stellte eine Kanne dampfenden Rotweins und Gläser auf den Tisch. Die Mahlzeit war beendet. Der Abbé de Lesdiguière hatte sich auf dem Heu im Schober schlafen gelegt. Es war die Stunde, in der Angélique und Valentin vor dem Kamin warmen, mit Kräutern und Zimt gewürzten Wein zu trinken pflegten. Valentin schob ihr ein Glas zu und ließ sich auf einem Schemel nieder, um schlürfend einen Schluck von dem Gebräu zu trinken. Sie betrachtete ihn, als sähe sie ihn zum erstenmal, und wunderte sich über seinen mächtigen, gebeugten Rücken unter dem bis zu den Knien reichenden Rock aus grauem Tuch und über die schweren, mit Metallspangen verzierten Schuhe. Nicht Bürger, aber auch nicht Bauer. Meister Valentin, der Müller aus der Mühle der Ukeleie. Ein Unbekannter, der immer um sie gewesen war.

Er beobachtete sie über den Rand seines Glases. Die Farbe seiner Augen war grau.

»Du wirst fortgehen?«

Er sprach Patois, und sie antwortete ihm in derselben Mundart.

»Ja, ich muß wissen, wie es mit unseren Leuten steht. Mit dem Frühling wird auch der Krieg kommen.«

Er leerte das Glas auf einen Zug, danach ein zweites.

Er atmete heftig.

Dann stellte er das Glas auf den Tisch, trat mit hängenden Armen zu Angélique und sah ohne ein Wort auf sie hinunter.

Durch seinen Blick gereizt, reichte sie ihm den Becher, den sie geleert hatte.

»Tu ihn fort.«

Er gehorchte und heftete von neuem seinen Blick auf sie. Sein Gesicht war pockennarbig und gerötet, und hinter den halb geöffneten Lippen nahm sie seine gelblichen, schlechten Zähne wahr.

Ihr einsames Beieinander, das ihr bisher gleichgültig gewesen war, begann sie zu bedrücken. Nervös umklammerte sie die Armlehnen des Lehnstuhls, in dem sie saß.

»Ich gehe schlafen«, murmelte sie.

Er tat einen Schritt auf sie zu.

»Ich habe ganz frische Farne aufgelegt, frisch im Unterholz gepflückt, damit das Bett weicher ist.«

Er beugte sich zu ihr, nahm ihre Hand in die seine und sah sie flehend an.

»Komm mit mir auf die Farne.«

Angélique zog ihre Hand zurück, als habe er sie verbrannt.

»Was fällt dir ein? Bist du verrückt?«