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Am folgenden Tag erhob sie sich. Sie hatte es eilig, die letzte Etappe zu ihrer Befreiung zurückzulegen. Das unaufhörliche Geplärr des Kindes machte sie rasend.

Sie schlüpfte in ihre Schuhe, bändigte das Haar unter dem schwarzen Satintuch und warf den Mantel über ihre Schultern.

»Gib sie mir«, sagte sie mit fester Stimme.

Melusine reichte ihr das Neugeborene, das sich heiser schrie. Angélique nahm es und ging entschlossen zum Ausgang der Höhle.

Melusine begleitete sie.

»Hör zu, meine Tochter, Hör auf meinen Rat.«

Sie legte ihre braune, klauenartige Hand auf Angéliques Arm und hielt sie zurück.

»Hör mich an, Tochter . Du darfst sie nicht töten.«

»Nein«, antwortete Angélique mühsam beherrscht, »sei unbesorgt. Sie wird nicht sterben.«

»Weil sie gezeichnet ist. Schau.«

Durch ihre Beharrlichkeit zwang sie Angélique, den Blick zu senken und auf der winzigen Schulter ein braunes Mal in Form eines Sterns zu entdecken.

»Kinder, die ein solches Mal tragen, werden von den Gottheiten der Gestirne beschützt .«

Angélique schob sie mit zusammengepreßten Lippen beiseite. Melusine hielt sie noch einmal auf.

»Ich kann dir sogar den Namen dieses seltenen Zeichens sagen . es ist das Zeichen Neptuns.«

»Neptuns?«

»Der Gott des Meeres!« sagte die Hexe, während in ihre Augen ein seltsames Leuchten trat.

Die junge Frau zuckte gleichgültig mit den Schultern und machte sich los.

Trotz ihrer Schwäche gelangte sie ohne Mühe zum Gipfel des Hügels, sosehr beflügelte sie ihr Verlangen, ein Ende zu machen. Sie überquerte die Lichtung des Steins der Feen und schlug den Pfad ein, der zum Kreuzweg der Totenlaterne führte, wegen des weißen, geschnitzten Vogels auf ihrer Spitze die Taubenlaterne genannt. Die Straße nach Fontenay-le-Comte lief dort nicht weit entfernt vorüber.

Nachdem sie zwei Stunden gegangen war, mußte Angélique in der Hütte des Holzschuhmachers eine Ruhepause einlegen. Vor Erschöpfung brach ihr der Schweiß aus und befeuchtete ihre Schläfen. Der Holzschuhmacher würde sie womöglich erkennen, aber das hatte nichts zu bedeuten, da er taubstumm war und dort das ganze Jahr hindurch mit seinem gleichfalls taubstummen zehnjährigen Sohn hauste.

Angélique bat um eine Schale Milch und ein Stück Brot.

Sie tränkte ein paar Krumen mit Milch und schob sie zwischen die Lippen des Kindes, das sofort aufhörte zu schreien. Sie selbst brachte nur mit Mühe ein paar Schluck Milch hinunter.

Nachdem sie sich ausgeruht hatte, brach sie wieder auf und sah bald die Straße vor sich.

Ein Karren näherte sich, und sie bat den Kutscher, sie mitzunehmen. Er fuhr zwar nicht bis Fontenay-le-Comte, versprach aber, sie ein Meile vor der Stadt abzusetzen.

Gegen Ende der Fahrt begann das Kind von neuem zu weinen.

»Gib ihm zu trinken«, sagte der Bauer gereizt.

»Ich habe keine Milch«, antwortete sie trocken.

Er setzte sie am vereinbarten Ort ab und wies mit seiner Peitsche auf die fernen Wälle und Kirchtürme der Stadt.

Fontenay-le-Comte befand sich in den Händen der Aufständischen. Aber Angélique sorgte sich nicht, daß man in der Bäuerin, die zur Stadt gekommen war, um dort ihr Kind zu lassen, die Rebellin des Poitou erkennen könnte, deren Entscheidungen von den Großbürgern Fontenays mit dem Respekt aufgenommen worden waren, den sie allenfalls Gesetzen entgegenbrachten, als sie während der Weihnachtstage unter ihnen geweilt hatte. Sie würde auf jeden Fall den Einbruch der Nacht abwarten, bevor sie die Stadt betrat.

Der runde Kopf des Neugeborenen in ihrer Armbeuge wog schwer wie Blei. Sie kam kaum voran. Ihre Nerven waren am Ende. Es verlangte sie danach, das unaufhörliche Geplärr zu unterbrechen, dieses Leben zu beenden, das sie quälte. Zu vernichten, auszutilgen, was gewesen war.

Entsetzt über ihre Gedanken, blieb sie stehen.

»Ich müßte beten«, sagte sie sich.

Doch sie vermochte nicht zu beten. Gott war fern, und sie fragte sich zuweilen mit Schrecken, ob sie ihn nicht zu vergessen begann.

Sie nahm ihren Marsch zur Stadt wieder auf, über die die Dämmerung bläuliche Schatten warf.

Unter den Wällen zögerte sie lange und strich wie ein Tier des Waldes umher, das die Nähe menschlicher Behausungen scheut.

Als sie bemerkte, daß die Wächter sich anschickten, die Tore zu schließen, überwand sie sich und betrat durch das Korntor die Stadt. In den engen Straßen gingen die Einwohner noch ihren Beschäftigungen nach. Man fand Vergnügen daran, die aromatische Luft dieses schönen, zum Ausgleich für so viele Opfer früh gekommenen Frühlings zu atmen. Die Leute hatten es sichtlich nicht eilig, ihre engen, dumpfen Wohnungen aufzusuchen, und riefen sich von der Schwelle ihrer Häuser aus Scherzworte zu.

Angélique wußte, daß sich das Amt für hilfsbedürftige Kinder an der Place du Pilori nahe dem Rathaus befand. Die Zahl der verlassenen Kinder war so groß, daß die Klöster zu ihrer Aufnahme nicht mehr genügten und daß man schon zu Zeiten Monsieur Vincents öffentliche Institutionen für sie geschaffen hatte. Die Krippe von Fontenay war ein ehemaliger, nun für seine neue Aufgabe umgebauter Getreidespeicher aus dem Mittelalter. Seine Fachwerkfassade war mit zahlreichen hölzernen Figuren geschmückt.

Angélique wagte sich nicht zu nähern, aus Besorgnis, die Blicke der Gevatterinnen durch das Geplärr des Kindes auf sich zu ziehen. Sie irrte durch die benachbarten Gassen, um auf das tiefere Dunkel und die Verlassenheit der Nacht zu warten.

So entdeckte sie an der Rückseite des Gebäudes das, was sie suchte: die »Drehlade«.

Die öffentliche Fürsorge hatte sie in einem dunklen, wenig begangenen Gäßchen angebracht, damit die Unglücklichen, die sich ihr näherten, ihre Schande verbergen konnten. Es gab dort keine andere Beleuchtung als eine kleine Ölfunzel neben eine Statuette des Jesuskindes, die die »Lade« krönte. Im Innern fand sich ein wenig Stroh. Angélique legte das Kind darauf.

Dann zog sie an der Kette einer Glocke, die ein langes, schepperndes Geläute ertönen ließ.

Sie wich zur anderen Seite des Gäßchens zurück, in den Schutz der tiefen Schatten der Häuser. Sie zitterte wie Espenlaub. Es schien ihr, als müßte das Geschrei des Kindes die ganze Nachbarschaft auf die Beine bringen.

Endlich rührte sich drüben etwas. Die »Lade« setzte sich knarrend in Bewegung, und nach und nach wurde das Plärren des Neugeborenen leiser und verstummte. Angélique ließ sich gegen die Mauer sinken. Sie war nahe daran, ohnmächtig zu werden. Was sie verspürte, war vor allem unsagbare Erleichterung, aber auch eine unermeßliche Trauer, die sie viele Jahre zurückversetzte. Das trübe, düstere Bild des Hofs der Wunder tauchte wieder vor ihr auf, dem sie für immer zu entgehen sich geschworen hatte. War das Leben denn nichts als ein infernalischer Kreislauf, in dem man immer wieder zum selben Punkt gelangte?

Sie verließ das Gäßchen mit langsamen Schritten. Sie bemühte sich, aufrecht, mit erhobenem Kopf zu gehen. Sie mußte vergessen, mußte der Einsamkeit der von ihrer Sünde gepeinigten Frauen in die Straßen der Stadt entkommen, mußte der Namenlosigkeit entfliehen, zu der sie sie verurteilte.

Sie peitschte ihren Stolz: »Du bist Angélique du Plessis-Bellière, du bist die, die den Aufruhr der Provinz gegen den König anführt.«

Die zur Ermutigung der Reisenden errichtete Kapelle Saint-Honoré war das genaue Abbild des Ortes, den sie hütete: finster wie eine Höhle, massiv wie eine Eiche, überwuchert vom Gewimmel der die Fassade schmückenden Statuen, auf der unter wie Dornsträu-cher mit Stacheln bestückten Glockentürmchen Gestalten mit langen Bärten und vorquellenden Schnek-kenaugen zu sehen waren, die apokalyptische Ungeheuer erwürgten.