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»Du, du kennst mich«, schien sie zu sagen. »Bei dir bin ich ruhig .«

»Ja, ich kenne dich«, murmelte Angélique. »Wir können ja nichts dafür . du nicht und ich nicht, nicht wahr?«

Auf einen Ellbogen gestützt, eine Wange in die Hand gelegt, beobachtete sie das Kind mit angespannter Aufmerksamkeit. Die Glückseligkeit, die sein Gesicht ausdrückte, löste die schmerzhafte Klammer um ihr Herz.

Weder Vergangenheit noch Zukunft. Schweigsame Stunden am Herzen der Erde. Und in ihr Bilder mehr als Worte, die gleich sanften, flüchtigen Schatten aufstiegen und sie beruhigten.

». Du bist niemandes Kind ... das kleine Mädchen aus dem Wald ... nur das kleine Mädchen aus dem Wald. Das Haar rot wie Herbstblätter . schwarze Augen wie Maulbeeren ... die Haut weiß und perlmuttschimmernd wie der Sand der Höhlen . du bist die Inkarnation des Waldes ... ein Irrlicht ... ein Kobold, nichts sonst. Du bist niemandes Kind ... Schlafe ... schlaf in Frieden .«

Der Abbé de Lesdiguière trat aus dem Dickicht, die Hände voller Pilze.

»Für dich, Honorine. Etwas Feines.«

Sie kam ihm auf schwankenden Beinchen entgegen. Sie war im Sommer ein Jahr alt geworden, als die Soldaten des Königs eben die Meierei umzingelt hatten, die zum Zufluchtsort Angéliques und der ihren geworden war.

Eingeschlossen wie Hasen in ihrer Grube, waren sie schon drauf und dran gewesen, sich zu ergeben, als Hugues de La Morinière und seine Protestanten sie befreit hatten. Angélique hatte beim Verlassen der Meierei über Leichen hinwegsteigen müssen. Honorine hustete von all dem eingeatmeten Rauch. Der Geruch des Pulvers und der Brände war im gleichen Maße Teil ihrer Existenz geworden wie das Krachen der Musketenschüsse, Blut und Schweiß auf den Gesichtern der Gehängten, Fluchten auf galoppierenden Pferden und finstere Nächte in der Tiefe der Wälder.

Ihre ersten Schritte hatte sie in Parthenay an dem Tage getan, an dem die Sturmglocke über der belagerten kleinen Stadt gedröhnt hatte. Die Angreifer waren abgewiesen worden und hatten sich zurückgezogen, aber die von allzu vielen Entbehrungen erschöpfte Stadt war für lange Zeit entkräftet geblieben. Angélique hatte Honorine nicht in dem Zimmer vorgefunden, in dem sie auf einem Stühlchen zurückgeblieben war. Sie war auf der Straße. So erfuhr ihre Mutter, daß sie gehen, ja sogar Treppen hinabsteigen konnte.

Ihr erstes Wort hatte sie an dem Tage gesagt, an dem Lancelot de La Morinière im Laufe eines hitzigen Gefechts in der Heide von Machecoul gefallen war. Und dieses erste Wort Honorines hatte Angélique wie eine Kugel ins Herz getroffen.

Sie hatte, vor einer roten Mohnblume stehend, »Blut« gesagt. Und ihr Gesichtchen war zu einer komisch wirkenden Leidensgrimasse verzogen, wie sie es bei Verwundeten gesehen hatte.

Auf die Blume deutend, wiederholte sie stolz: »Blut ... Blut.« Sie hatte das Wort an diesem Abend noch oft wiederholt. Bis Angélique wütend geworden war.

Die Härte der Sommerkämpfe hatte eine tiefe Müdigkeit in ihr zurückgelassen, und Furcht begann in sie einzusickern. Der König hatte nicht kapituliert, aber das Poitou wankte. Der seiner beiden Brüder beraubte Hugues de La Morinière war wie ein Körper ohne Kopf. Er war niemals imstande gewesen, selbständig zu denken. Nachdem Lancelot, der ihm seinen Glauben an Angélique eingeflößt hatte, tot war, gewann sein puritanisches Mißtrauen gegen die Frauen wieder die Oberhand. Und Samuel war nicht mehr da, um den Stolz des sich gegen den König erhebenden Vasallen in ihm zu stärken.

Das nahe Ende des Sommers würde vermutlich die drohende Katastrophe verhindern. Getäuscht durch den hartnäckigen Widerstand, war sich das militärische Kommando über die zu treffenden Maßnahmen noch im unklaren. Der König war dafür, die Rebellen an ihrer eigenen Kampfmüdigkeit, an Hunger, Not und Munitionsmangel scheitern zu lassen. Seine Minister schlugen dagegen den Einsatz erdrückender Kräfte vor. Der König selbst sollte seine Truppen zu blutiger Niederwerfung des Aufstandes führen, um alle anderen Provinzen abzuschrecken. Man durfte nicht vergessen, daß es sich auch in Aquitanien, in der Provence und der Bretagne rührte, und daß man der letzten Eroberungen, der Picardie und des Roussillon, nicht sicher sein konnte.

Angélique hatte von diesem Aufschub keine Ahnung. Sie konnte dergleichen vermuten, aber es fiel ihr schwer, ihre niedergeschlagenen Truppen ohne Beweise davon zu überzeugen. Dennoch war sie die einzige, die sie immer wieder daran erinnerte, daß es für sie keine Wahl mehr zwischen Kampf und Knechtschaft gab. Nach den Zuckungen des Sommers im Fieber glühendheißer Tage hatte sie sich darum mit de La Grange und seinen Männern in die Tiefe der Schluchten von Mervent geflüchtet. Sie kampierten in einem hundertjährigen Wald, der den Forst von Nieul in nördlicher Richtung verlängerte. Sie sammelten neue Kräfte und verbanden ihre Wunden ...

Der Abbé de Lesdiguière hatte einen Haufen dürrer Zweige zusammengetragen, steckte ihn mit seinem Feuerzeug an und machte sich daran, die für Honorine gesammelten Pilze zu kochen. Seine Muskete, die er fast ständig bei sich trug, hatte er neben sich ins Gras gelegt, und er schärfte dem Kind ein, sie nicht anzufassen. Honorine machte eine Grimasse, die bewies, daß sie es seit langem gelernt hatte, diesen rauchenden und knallenden Gegenständen zu mißtrauen.

Angélique saß einige Schritte entfernt auf einem moosüberzogenen Fels und beobachtete sie.

Der Abbé trug eine grobe Lammfellweste. Den runden Hut mit der Silberschnalle hatte er durch die unförmige, verwaschene Kopfbedeckung der Bauern der Gegend ersetzt. Der Kragen seines zerlumpten Hemdes öffnete sich über der jungen, gebräunten Brust, auf der ein an verschossenem Band hängendes goldenes Kreuz glänzte. Aus dem kleinen, zarten, gesitteten, bis in die Fingerspitzen kultivierten Präzeptor hatte sie also diesen Mann der Wildnis gemacht. Es war undenkbar, ihn mit dem Jüngling von Versailles oder Saint-Cloud zu vergleichen, der mit rührender Artigkeit die Spöttereien und herausfordernden Blicke der Damen des Hofs ertragen und mit Grazie seinen Diener gemacht hatte, um die verderbten großen Herren zu begrüßen. Seine Schultern waren breiter geworden, so daß seine schlanke Taille besser zur Geltung kam. Seine Zartheit hatte sich verloren. In seinem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht hatte sich nur der sanfte Rehblick nicht verändert. Wie alt mochte er sein? Zwanzig Jahre? Zweiundzwanzig? ...

Sie rief ihn plötzlich, und er näherte sich ihr mit der gewohnten Bereitwilligkeit und Ehrerbietung, die den Luxus ihres einstigen Hauses mit seiner zahlreichen Dienerschaft wieder vor ihr erstehen ließ.

»Madame? .«

»Herr Abbé, ich habe Euch oft genug gebeten, uns zu verlassen. Jetzt muß es sein. Wir sind Gejagte. Ich weiß nicht, welcher Katastrophe wir entgegengehen. Kehrt zu den Euren zurück . Ich bitte Euch, tut es um meinetwillen. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, Schuld an Eurem Untergang zu sein.«

Wie immer, wenn sie auf dieses Thema kam, erblaßte er und legte die Hand aufs Herz.

»Es ist unmöglich, Madame. Ich kann nicht fern von Euch, getrennt von Euch leben.«