Выбрать главу

Die Unerschrockenheit der ausgehungerten Bestien, die des ungewöhnlich lange anhaltenden Winters wegen aus ihren Schlupfwinkeln in den Wäldern gekommen waren, hatte sie und ihre Leute im Laufe dieser letzten Monate schon mehrmals in eine schwierige Lage gebracht. Sogar Berittene hatten die Wölfe verfolgt. Sie strichen um die Biwakfeuer, so daß man, um sie zu vertreiben, Fackeln und brennende Strohwische nach ihnen schleudern mußte.

Das Licht der Totenlaterne würde nicht ausreichen, um sie zu vertreiben. In Angéliques Gürtel steckte eine Pistole. Sie konnte sie abschrecken, aber nicht für lange.

Die ein wenig höher gelegene Hütte des Holzschuhmachers fiel ihr ein. Sie mußte sie zu erreichen versuchen, solange sich die Wölfe nicht näher heranwagten und der erstaunlich blaue, durch die Kälte aufgeklarte Himmel noch ein wenig Licht in das Dunkel unter den Bäumen sickern ließ. Sie setzte sich in Bewegung, im Bewußtsein der ihr folgenden lautlosen Wolfsschatten in den Büschen.

Wenn sie sich umdrehte, konnte sie ihre phosphoreszierenden Lichter erkennen. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, bückte sie sich, las Steine auf und warf sie in ihre Richtung, wie man es mit bissigen Hunden tut. Vor allem durfte sie nicht stolpern und fallen. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie endlich das rötlich schimmernde Fenster der Hütte unter den Bäumen erblickte. Sie mußte sich kräftig gegen die Tür stemmen, bevor sie nachgab und sich öffnete. Durch Zeichen erklärte Angélique dem Taubstummen, daß sie von Wölfen verfolgt würde und daß es nötig sei, sich tüchtig zu verbarrikadieren. Um den armen Tropf und seinen gleichfalls taubstummen Sohn zu beruhigen, die sie erschrocken anstarrten, legte sie ein Goldstück auf den Tisch, das letzte von denen, die ihr der Baron du Croissec kürzlich vorgeschossen hatte. Ein Schinken wäre ihnen in dieser Zeit der Not vermutlich gelegener gekommen. Die vom Saft des frischen Holzes geschwärzten Hände des Alten griffen jedoch gierig nach dem Goldstück und drehten es lange hin und her, bevor sie es in den Gürtel gleiten ließen.

Angélique setzte sich vor den Herd. Wenigstens war es warm hier. Der taubstumme Junge warf eine Handvoll Späne auf die Glut, und Angélique hielt Honorines kleine Füße näher an die Flamme, sie sanft reibend, um die Zirkulation des Blutes zu beleben. In der aufmunternden Wärme färbten sich die Wangen des Kindes wieder, und es begann an seinem Käse zu knabbern, während es mit dem an ihm gewohnten aufmerksamen Blick seine neue Umgebung musterte. Die in Trauben an den Dachbalken hängenden Holzschuhe erregten seine Aufmerksamkeit besonders. Angélique horchte immer wieder nach draußen, in der Hoffnung, die Musketenschüsse ihrer Begleiter zu hören, die, am Treffpunkt angelangt, begreifen würden, daß sie vor den Wölfen hatte fliehen müssen. Sie wollte dann auf die Schwelle der Hütte treten und mit einem Pistolenschuß antworten. Doch sie hörte nichts. Des Wartens müde, streckte sie sich schließlich mit Honorine auf dem dürftigen Lager aus, das der Holzschuhmacher ihr anwies. Das Bett aus Holzspänen war behaglicher, als sie gedacht hatte. Sie lehnte die ihr gereichte verdächtige Decke ab, nahm aber ein grobes Schaffell an.

Sie fühlte sich seltsam ruhig und vermochte sogar ein paar Stunden traumlos zu schlafen. Seit langer Zeit schon hatte sie aufgehört, sich mit Gedanken über ihre Vergangenheit zu beschweren, über das, was hätte sein können oder nicht hätte sein dürfen, und über die Fülle der dramatischen Geschehnisse, mit denen sie in ihrem verhältnismäßig kurzen Dasein schon fertiggeworden war. Sie war für diese Sorgen und Dramen selbst verantwortlich. Sie hatte gegen die Gesetze und alles, was man ihr sonst beigebracht hatte, leben wollen. Hatte ihr erster Mann das gleiche Verbrechen nicht teuer bezahlen müssen? Weit entfernt, daraus eine Lehre zu ziehen, war sie auf dem Wege des Widerstands gegen die herrschenden Mächte weitergegangen. Sie wunderte sich nicht mehr darüber, ihnen zum Opfer gefallen zu sein, wie sie es so lange getan hatte. Der Kampf ums Dasein war ihr zur zweiten Natur geworden, und aus der privile-gierten, nach Gesetzen und Regeln geordneten Welt war sie in die der wilden Tiere hinabgestiegen, die täglich ihr Leben verteidigen und tausend Gefahren abwehren mußten.

Gegen Mitternacht erwachte sie und bemerkte den Holzschuhmacher, der durch das schmale Fenster spähte. Sie trat hinter ihn und entdeckte in der Lichtung unruhig umherstreichende Wölfe. Der größte von ihnen hob den spitzen Kopf und heulte mehrere Male. Die Ziege im Stall zerrte an ihrer Kette und blökte.

Angélique legte sich wieder neben Honorine nieder. Mit leichten Fingern ordnete sie die roten Löckchen, die in die Stirn der Kleinen fielen, und betrachtete das Gesicht der friedlich Schlummernden. Die Unheil kündende Bedeutung des heulenden Wolfs bestätigte die Ahnungen ihres Herzens. »Das ist der Anfang vom Ende«, sagte sie sich.

Am Morgen hatte es geschneit. Eine leichte, pulvrige Schneedecke verhüllte die Umgebung, die ersten zagen Frühlingshoffnungen zunichte machend. Das geschundene Land weigerte sich, zum Leben zu erwachen.

Vergebens suchte Angélique in der Hütte nach einem Stück Papier und einer Feder. Schließlich nahm sie einen Fetzen Tuch und schrieb mit einem Stück Holzkohle darauf. Mehr Geduld erforderte es, dem Sohn des Holzschuhmachers begreiflich zu machen, wo sich die Meierei der Fayets befand, zu der er sich begeben sollte.

Endlich schlurfte der Junge durch den Schnee davon, die Botschaft an die Brust drückend, durch die Angélique den Abbé de Lesdiguière über ihren Aufenthaltsort unterrichten wollte.

Erst am folgenden Tag kehrte er zurück. Durch Zeichen gab er ihr zu verstehen, daß er einen ihrer Begleiter getroffen habe und daß man sie am Stein der Feen erwarte, den er gut erkennbar auf die hölzerne Platte des Tisches zeichnete.

Warum waren sie nicht selbst hierher gekommen? Warum hatte der Abbé dem kleinen Taubstummen keinen Brief anvertraut? ... Da sie dem Jungen keine weiteren Auskünfte entlocken konnte, entschloß sie sich, zu dem angegebenen Treffpunkt zu gehen. Es war gut möglich, daß sie aus Vorsicht den abgelegenen Ort gewählt hatten.

Sie machte sich also auf, während des Weges bedauernd, daß sie keine Männerkleidung trug, da ihre Röcke sie beim Marsch durch den Schnee behinderten.

Am Rande der Schlucht der Wölfe angelangt, zögerte sie angesichts der zusammengewehten Schneemengen. Der Umweg über den Kammpfad hätte sie allzu lange aufgehalten. Da Honorine ihr dabei im Wege sein würde, setzte sie das Kind ins Moos unter einen Baum, dessen dichtes Gezweig seine nächste Umgebung ziemlich trocken gehalten hatte, band es mit ihrem Gürtel an den Stamm und ermahnte es, artig zu sein. Der Abbé und Flipot würden bald kommen, um es zu holen. Honorine war daran gewöhnt, auf solche Weise irgendwo zurückgelassen zu werden. Mehr als einmal hatte sie so bei der Nachhut das Ende eines Gefechts oder eines Erkundungsstreifzugs abgewartet.

Angélique hatte bei der Durchquerung der Schlucht zahllose Hindernisse zu überwinden. Mehrmals stürzte sie und versank bis zur Taille im Schnee. Als sie die Höhe der anderen Seite erreicht hatte, glaubte sie zu ihrer Linken menschliche Gestalten sich bewegen zu sehen, und in der Annahme, daß es ihre Begleiter seien, wollte sie sie anrufen. Doch der Ruf erstickte in ihrer Kehle.

Soldaten traten aus dem Wald.

Sie hatten sie nicht entdeckt und folgten der Baumlinie auf der rechten Seite des Tals. Schwarz und mager, mit ihren schimmernden Helmen und Lanzen, die sich gegen den grauen Himmel abzeichneten, hatten sie etwas von der grausamen, heimtük-kischen Art der Wölfe.

Vor Schreck wie gelähmt, wartete Angélique auf ihr Verschwinden, um ihren Weg fortsetzen zu können. Woher kamen diese Soldaten? Was taten sie in dieser entlegenen Gegend des Waldes? Wen suchten sie? ...

Langsamer als zuvor schleppte sie sich in Richtung des Steins der Feen weiter. Die Angst raubte ihr fast den Atem. Am Rande der Lichtung wußte sie, daß sie zu spät gekommen war. Gehängte hingen von den Ästen der Eichen rings um den Stein. Der erste, den sie erkannte, war Flipot ...