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Mein armer Flipot! Gestern noch so voll zäher Lebenskraft! Sie hatte ihn nicht vor seinem ihm bestimmten Schicksal bewahren können.

Dann erkannte sie alle, einen nach dem andern: den Abbé de Lesdiguière, Malbrant Schwertstreich, Martin Genêt, den Stallknecht Alain, den Baron du Croissec ... Die Gehängten mit ihren vertrauten Gesichtern bevölkerten die Lichtung mit einer beinah lebendigen Gegenwart, und um ein weniges hätte sie mit ihnen gesprochen: »Da seid ihr endlich . meine Freunde .«

Sie mußte sich an einen Baum lehnen.

»Verflucht seist du, König von Frankreich«, murmelte sie. »Verflucht seist du!«

Wie betäubt blieb sie stehen und vermochte ihren Augen nicht zu trauen. In welchen Hinterhalt waren sie gefallen? Wer hatte sie verraten? Die Soldaten eben? ... Ohne Zweifel waren sie es, die diese grausige Hinrichtung vollzogen hatten.

Die wahnwitzige Hoffnung, daß sie noch nicht tot seien, daß sie wenigstens einen von ihnen wieder ins Leben zurückrufen könnte, ließ sie auf den Stein klettern und versuchen, den Abbé de Lesdiguière von seinem Strang zu lösen. Es gelang ihr, und der Körper glitt weich zu Boden. Trotz der Kälte war er noch nicht erstarrt. Neben ihm kniend, forschte Angélique nach seinem Herzschlag, nach irgendeinem Lebenszeichen. Doch der Tod hatte sein Werk getan. Sie drückte ihn gegen ihr Herz und küßte seine reine Stirn.

»O mein Schutzengel! ... Mein liebes Kind! ... Ihr seid gestorben ... gestorben für mich. Was wird ohne Euch aus mir werden?«

Voller Schmerz betrachtete sie seine starren, schönen Augen, die nichts mehr sahen. Sanft schloß sie seine Lider, schloß sie seinen angeschwollenen Mund ...

Ein ferner, dünner Schrei, der in der frostigen Luft vibrierte, riß sie aus ihrer Versunkenheit. Honorine!

Angélique schüttelte die stumpfe Benommenheit ab, die über sie gekommen war, die vertrauten Toten mit einem letzten Blick umfangend. Sie mußte das Kind retten ...

Honorine saß still unter dem Baum. Sie weinte nicht, aber ihre kleine Nase war rot wie eine Stechpalmenbeere. Sie bewegte ihre Ärmchen in allen Richtungen, um ihre Freude auszudrücken, als sie ihre Mutter bemerkte.

Sie band sie los und nahm sie in ihre Arme. In diesem Augenblick glaubte sie einen Blick auf sich ruhen zu fühlen, wandte sich um und entdeckte auf der anderen Seite der Schlucht der Wölfe einen Soldaten, der sie beobachtete .

Bei der ersten Bewegung Angéliques stieß der Mann einen gutturalen Schrei aus.

Es gelang ihr, die Böschung zu erklettern und sich in die Deckung der Bäume zu flüchten. Sie begann geradeaus zu marschieren, einem Pfad nachdem anderen folgend. Ihr schwerer, durchfeuchteter Rock schlug ihr hindernd um die Beine, doch sie ging schnell, von ihrer Angst vorangetrieben.

Von fern drang dumpfes Hundegebell zu ihr herüber. Hatten sich die Soldaten an ihre Verfolgung gemacht? Mit ihren Hunden? Sie atmete schwer, ihre Arme waren unter dem Gewicht des Kindes fühllos geworden.

Nun war jeder Zweifel ausgeschlossen: sie wurde verfolgt. Das Bellen kam näher, sie unterschied schon die anfeuernden Rufe der Soldaten. Offenbar hielten sie die Hunde noch an ihren Leinen. Der feuchte Schnee bewahrte ihre Spuren. Es nützte ihr nichts, mit der List des von seinen Jägern zum äußersten getriebenen Tieres nach links und rechts Haken zu schlagen; sie würden sie mühelos wiederfinden und sie unerbittlich einkreisen.

Die Dämmerung fiel ein. Der bleierne Himmel schien sich mit der Nacht herabzusenken. Angélique spürte auf ihren Wangen die leise Berührung der ersten Flocken, die um sie herum zu tanzen begannen. Dann fielen sie dichter, und bald schritt sie wie durch gleitende, undurchsichtige Vorhänge, die sie zu ersticken drohten. Aber der Schnee würde wenigstens ihre Spuren verwischen ...

Tatsächlich schienen ihre Verfolger zurückzubleiben. Das Bellen der Hunde war nicht mehr zu hören. Auch sonst kein Laut. Sie bewegte sich in einer Grabesstille, die nur vom dichten, lautlosen Fallen des Schnees erfüllt war. Ihr nasses Gesicht war durch die Kälte wie gelähmt. Oftmals stieß sie hart gegen Baume.

Endlich hielt sie inne. Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen. Sie wußte nicht, wo sie sich befand. Der Schnee fiel sanft auf sie herab. Sie war versucht, sich niederzusetzen, wenn auch nur für einen Augenblick, aber dann würde sie nicht wieder aufstehen.

Das Kind rührte sich leicht in ihren Armen.

»Hab keine Angst«, murmelte Angélique, ihre Lippen nur mit Mühe bewegend, »fürchte nichts, ich kenne den Wald, weißt du .«

Von neuem hörte sie das Kläffen der Hunde. Sie gaben nicht auf. Angélique setzte sich in Bewegung. Sie taumelte und hielt sich eben noch aufrecht. Der Boden war ihr unterm Fuß weggeglitten. Sie mußte sich am Rand einer Schlucht oder eines steilen Abhangs befinden. Sie spürte die Leere in einer neuen, von der Enge zwischen den Bäumen gelösten Weite der Nacht.

Als sie unbeweglich stehenblieb, drangen die erstickten Töne einer Glocke an ihr Ohr. Das rhythmische Anschlagen versprach ihr Asyl.

Von wilder Hoffnung erfüllt, begann sie vorsichtig den Abhang hinunterzuklettern, und bald erkannte sie, dunkler noch als die Nacht, die hohen Mauern der Abtei von Nieul. Sie zerrte an der Kette des Portals. Dem eisigen, ausweglosen Alptraum entronnen, fühlte sie sich im Schutz der Tornische bereits halb geborgen.

Eine Hand schob den Schieber des Gucklochs beiseite, eine Stimme sagte:

»Gelobt sei Gott! Was wünscht Ihr?«

»Ich habe mich mit meinem Kind im Wald verirrt.

Gewährt mir Asyl.«

»Wir beherbergen keine Frauen in der Abtei. Wenn Ihr fünfzig Schritt weitergeht, findet Ihr ein Wirtshaus, in dem man Euch aufnehmen wird.«

»Nein ... ich werde von Soldaten verfolgt. Nur Eure Mauern können mich schützen.«

»Geht zum Wirtshaus«, wiederholte die Stimme.

Der Unsichtbare schien das Guckloch schließen zu wollen. Verzweifelt schrie sie auf:

»Ich bin die Schwester Eures Benefizianten Albert de Sancé de Monteloup. öffnet mir, um Gottes willen ... öffnet mir!«

Der Pförtner zögerte, dann schloß sich der Schieber. Gleich darauf hörte sie Schlüssel klirren und das Knirschen schwerer Riegel. Sie warf sich in den sich öffnenden Spalt wie ein menschliches Abbild des Unwetters, dessen Schneegewirbel hinter ihr zurückblieb.

Zwei kleine weißhaarige Mönche betrachteten sie mit verdutzten Mienen.

»Schließt diese Tür«, flehte sie, »schließt sie fest und öffnet vor allem nicht, wenn Soldaten Einlaß begehren.«

Sie gehorchten, und Angélique atmete auf, als der große hölzerne Balken quer vor den Türflügeln lag.

»Haben wir recht verstanden, daß Ihr die Schwester des Benefizianten der Abtei, Monsieur de Sancés, seid?« fragte einer der Mönche.

»Ja, es ist wahr.«

»Wartet dort«, sagte er, auf die Tür eines niedrigen Raumes weisend, in dem eine große Kerze in einem kupfernen Wandleuchter brannte. Unter der steinernen Wölbung war es kaum weniger kalt als draußen.

Angélique zitterte vor Kälte und Erschöpfung an allen Gliedern. Ihre erstarrten Arme, mit denen sie die wimmernde Honorine umfing, spürte sie nicht mehr.

Endlich bemerkte sie die Gestalten zweier anderer Mönche, die sich vom Kloster her näherten. Einer von ihnen hielt eine Öllampe. Sie trugen die den Oberen vorbehaltenen weißen Kutten. Sie betraten den Raum und blieben vor ihr stehen. Der Jüngere trat noch näher heran, während er die Lampe hob, um das erbarmungswürdige Gesicht der Besucherin besser erkennen zu können.

»Ja, sie ist es«, sagte er schließlich. »Es ist meine Schwester Angélique de Sancé ...«

Die Glocke des Portals wurde stürmisch gezogen, und der Bruder Pförtner erschien, um zu melden, daß eine Schar bewaffneter Männer Einlaß in die Abtei begehre.