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»Ihr habt recht«, sagte sie mit jähem Erschrecken. »Jetzt kann ich nicht sterben. Es wäre Verschleuderung.«

Er lachte.

»Ich liebe das Aufflammen Eurer Vitalität! Ja, Madame, Ihr müßt leben. Sterben in der Niederlage - wie lächerlich! Das Schlimmste ...«.

Sie kämpfte mit sich. Sie fürchtete, seinen dunklen, bannenden Augen zu begegnen, sobald sie den Blick hob.

»Ihr belauert mich wie eine Beute«, murmelte sie.

»Ich möchte Euch befreit sehen, damit Ihr von neuem zu leben beginnt.«

»Befreit wovon?« rief sie aufgebracht aus.

»Von jenem tief in Euch vergrabenen Hemmnis, das Euch daran hindert, Freundschaft mit Euch selbst und dem Leben zu schließen.«

»Ich könnte niemals verzeihen.«

»Nicht das wird von Euch gefordert.«

Angélique war in einen inneren Kampf verstrickt. Er beobachtete ihr hastiges Atmen, und die Angst, die dieses schöne Gesicht verzerrte, quälte ihn.

Wie, warum, an welchem Tage würde sie vor ihm niederknien? Ihre Hände krallten sich in das grobe Tuch seiner weißen Kutte, und der Zwang, den sie sich auferlegte, weitete ihre klaren, lichten Augen.

»Hört mich an, Bruder Jean ... Hört mich an ... Wißt Ihr von dem Gemetzel auf dem Feld der Dragoner?«

Er neigte bejahend den Kopf.

»Ich bin es, die es befohlen hat.«

»Wir wissen es.«

»Das ist nicht alles. Hört ... Sie brachten mir den Kopf Montadours, und ich ... ich habe bei seinem Anblick ein schreckliches Vergnügen empfunden. Ich hätte gerne meine Hände in seinem Blut gewaschen.«

Der Geistliche schloß die Augen.

»Seit dieser Nacht«, flüsterte Angélique, »habe ich Angst vor mir und vermeide es, mich über mich selbst zu neigen.«

»Die Verlockung des höllischen Abgrunds hat Euch gepackt. Wollt Ihr diese Erinnerung für immer auslöschen?«

»Von ganzem Herzen.«

Voller Hoffnung sah sie ihn an.

»Könnt Ihr sie löschen?«

»Habt Ihr denn den Glauben Eurer Kindheit völlig verloren, daß Ihr daran zweifelt?«

»Gott weiß es. Was nützte das Bekenntnis, das ich Euch im Beichtstuhl machen würde?«

»Ohne Bekenntnis und Reue vermöchte selbst Er es nicht, Eure Sünde zu vergeben. Darin besteht die menschliche Freiheit.«

Er hatte sie besiegt.

Nach der Absolution war ihr, als genese sie von einer Krankheit. Sie betrachtete ihre Hände, die offen vor ihr lagen.

»Wird das Blut an meinen Händen auch ausgelöscht werden?«

»Es handelt sich nicht darum, den Folgen Eurer Taten zu entgehen, sondern von neuem zu leben. Jahrelang seid Ihr nichts als Haß gewesen. Seid von nun an nur Liebe. Eure Genesung vollzieht sich um diesen Preis.«

Ihr Lachen klang ernüchtert.

»Dieses Programm gefällt mir nicht. Mein Kampf ist noch nicht zu Ende.«

»Es ist eine innere Haltung.«

Sie verspottete seine Bewegung, indem sie herausfordernd das Haar schüttelte.

»Was für Geschichten um einen abgeschnittenen Kopf! Moulay Ismaël opferte täglich zwei oder drei, um Gott angenehm zu sein. Ihr seht, daß es recht schwierig ist, das Gute oder Böse zu definieren, wenn man auf Reisen ist.«

Ihre Bemerkung schien den Vater Abbé zu amüsieren. Sein Lächeln war wie der Abglanz eines Sonnenstrahls auf Schnee. Es verwandelte die strenge, ernste Maske in ein freundliches Gesicht von erstaunlicher Jugendlichkeit.

In der Ruhe schien es wie in Stein geschnitten, eiskalt. Es wirkte, als ob nichts seine starre Strenge mildern könnte, und dennoch spielten über seine Züge im Laufe des Gesprächs leidenschaftliche Ausdrücke: Lachen, Schmerz, Zorn, Teilnahme. Wenn sie an ihn dachte, sah sie ihn ernst und undurchdringlich. In Wahrheit hatte er das beweglichste Gesicht der Welt, unaufhörlich jedem Eindruck hingegeben.

Anfangs hatte er sie so eingeschüchtert, daß sie lange brauchte, um diese Eigentümlichkeit zu bemerken und in der Wärme seines Lebens aufzutauen.

Auf den Scherz eingehend, den sie in Erinnerung an Moulay Ismaël gemacht hatte, sagte er: »Das Böse ist das, was Ihr für Eure moralische Gesundheit als schädlich empfindet. Das Gute befriedigt Eure persönliche Neigung für Gerechtigkeit.«

»Nun ist es an mir, Euch zu fragen, Vater, ob Eure Erklärung nicht ein ganz klein wenig ketzerisch ist.«

»Ich erlaube sie mir nur denen gegenüber, die sie zu verstehen vermögen.«

»Habt Ihr so großes Vertrauen zu mir?«

Er betrachtete sie lange.

»Ja, denn Euer Schicksal ist nicht üblich. Ihr müßt Euch außerhalb gebahnter Wege bewähren.«

Er stellte ihr viele Fragen über den Islam. Was sie ihm von den muselmanischen Sitten, von dem intensiven, wilden Glauben berichtete, begeisterte ihn, und ohne Furcht enthüllte sie ihm ihre Bewunderung und das Heimweh, das sie zuweilen danach verspürte.

Sie durchblätterten Folianten, die zwischen kunstvollen Malereien die Geschichte der arabischen Invasionen und die Erläuterung der Botschaft Mohammeds durch die Kirchenväter enthielten. Es waren unvergeßliche, zeitlose Stunden, die Angélique vor den Lesepulten verbrachte, während er mit seinen mageren Händen die Seiten umwandte, Händen, die so schmal und durchscheinend waren, daß sie fast weiblich wirkten. Durch seine intensive Beschäftigung mit den Primitiven schien er deren blutlose Grazie angenommen zu haben.

Eines Nachmittags, während sie ihn erwartete, entdeckte Angélique in einer der Malereien ein Engelsgesicht mit grünen Augen, das ihr vertraut schien. Noch einige Male fand sie diesen Engel im Meßbuch wieder. Ein Engel mit traurigem oder funkelndem Blick, mit gesenkten Lidern unter der lichten Haarkrone, lächelnd oder ernst.

»Nicht wahr, Bruder Jean, als Novize der Abtei von Nieul habt Ihr einstmals dieses Buch ausgeschmückt?« fragte sie lächelnd, als der Vater Abbé eintrat.

Er betrachtete die Bilder und lächelte gleichfalls.

»Wie hätte ich das Kind der Nacht vergessen können, die Poesie, die von ihm ausging? Frische, Schönheit, Lebenslust, alle diese Schätze waren in ihm und verströmten sich durch seine Augen. Mir scheint, daß Gott es ins Kloster geschickt hatte, um mir die Schönheit Seiner Schöpfung ins Gedächtnis zu rufen.«

»Und jetzt bin ich alt, eine gefallene Sünderin.«

Der Vater Abbé lachte herzlich.

»Wo nehmt Ihr nur solche Dummheiten her? Wie kann ein so schöner Mund es wagen, so bittere Worte von sich zu geben? Ihr seid jung! Oh, wie jung Ihr seid!« wiederholte er mit einem feurigen Blick. »Ihr habt Euch, und das ist fast ein Wunder, die Überfülle des Lebens bewahrt. Gewiß, Ihr habt viel gelebt, und dennoch, ich versichere es Euch, liegt Euer wahres Leben noch vor Euch.«

»Ich habe weiße Haare.«

»Ein Schmuck mehr«, sagte er in spöttischem Ton.

Und zum erstenmal seit langen Monaten wurde sie sich vor seinen auf sie gerichteten Augen ihrer selbst bewußt und glaubte, sich in ihnen zu sehen. Sie spürte die Kraft ihres Körpers, ihre in der Luft der Wälder, durch die Härte der Ritte gewachsene Widerstandsfähigkeit. Ihre Taille war nicht mehr so zart, ihre Schultern waren kräftiger, aber sie hatte die rosig überhauchte, goldwarme Hautfarbe der Poitevinerin wiedergefunden, und die Schatten um ihre Augen, diese Schatten, die von zahllosen Tränen sprachen, betonten das Pathos ihres Blicks und unterstrichen seinen Glanz.

Ihre äußere Erscheinung war ihr so gleichgültig geworden, daß es ihr fast peinlich war, sich so plötzlich neu zu entdecken, und daß sie mechanisch die Säume ihres Mantels über ihrer Brust zusammenzog.

»Ihr sucht mich vergeblich zu ermutigen«, sagte sie, den Kopf schüttelnd. »Ihr könnt es nicht verstehen ... Ich sehe aus, als ob ich lebte ... Aber ich fühle mich wie hinter einem dichten Vorhang.«