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Die Truppen des Königs stellten nach und nach die Ordnung wieder her. Durch den Abbé von Nieul empfohlen - »Ein allzu heiliger Mann«, meinte der Prior von Maillezais seufzend -, fand Angélique gute Aufnahme, und nachdem sie eine Nacht in der Abtei verbracht hatte, gab man ihr einen Führer mit, der sie bis in die Gegend von Les Sables d’Olonne geleiten sollte.

Honorine auf dem Rücken, schritt sie nun unter den Zweigen von Zwergeichen und Haselnußsträuchern einen aufgeweichten, sandigen Weg hinunter. Es hatte geregnet. Ein seltsamer Geschmack lag in der gereinigten Luft. Die regenfeuchten Blütenblätter eines wilden Rosenstocks streiften über ihre Hand.

Ein ungewohntes Geräusch war von jenseits der Hecke zu vernehmen.

Es war die letzte Etappe.

Das Geräusch verstärkte sich. Mit vorsichtigen Schritten, mißtrauisch und fasziniert zugleich, ging Angélique weiter und entdeckte endlich das Meer. Nicht mehr das blaugoldene Mittelmeer, sondern den Ozean, das Meer der Finsternis, das Grab der Atlantis ...

Grau, blau und grün, verschmolz er am Horizont mit den Nebeln des Himmels.

Ein paar Schritte noch, dann bemerkte sie den violetten, vom Netz der silbrig schimmernden Pfützen gemusterten Strand, die regelmäßig angelegten Salzteiche, die weißen Kegel aufgehäufter Salzkristalle, die die sinkende Sonne mit zarten, rosigen Lichtern überspielte.

Zur Linken erhob sich eine Hütte. Dort sollte Angélique mit Ponce-le-Palud zusammentreffen, dem protestantischen Salzschmuggler, der von der ersten Stunde an einer ihrer Parteigänger gewesen war.

Doch Ponce-le-Palud war am Abend zuvor gefangengenommen und unter der doppelten Anklage des Salzschmuggels und der Rebellion gegen den König hingerichtet worden.

Ihre letzten Kampfgenossen hielten sich in den dürftigen Wäldern der Küste versteckt, wo sie von Räubereien lebten. Angélique verhandelte mit ihnen über die Möglichkeit, sich nach der Bretagne einzuschiffen. Dort würde sie vielleicht einige Zeit im verborgenen leben können. Einstweilen war es das Wichtigste, den Patrouillen zu entgehen.

Die dem König treu gebliebene oder sich ihm wieder zuwendende Küstenbevölkerung machte sich kein Gewissen daraus, die letzten Aufständischen zu verraten, um durch ihren Eifer ihre Begnadigung zu erkaufen. Besiegte haben keine Bundesgenossen. Bedrückt zwischen den bitter gewordenen Protestanten, denen das volle Ausmaß ihrer Niederlage und Not kein Geheimnis war, wuchs Angéliques Unruhe. Sie kannte nur noch ein Ziel. Sich einzuschiffen. Das Meer allein schien ihr Sicherheit zu verbürgen, bot sich als hilfsbereiter Komplice an.

Am dritten Tage stürzten abgezehrte, zerlumpte Männer in den Wald und meldeten schreiend, daß ein Zug Kaufleute sich nähere. Er komme aus Marans und transportiere Korn und Wein. Seit Monaten hatte man dergleichen nicht mehr gesehen. Die Verfolgten griffen alsbald nach ihren Waffen: Degen, Säbeln, Knüppeln. Pulver und Kugeln für ihre Musketen besaßen sie längst nicht mehr.

»Tut es nicht«, bat Angélique. »Ihr werdet nur die Aufmerksamkeit der berittenen Gendarmen auf uns lenken. Wenn sie diesen Wald durchsuchen .«

»Wir müssen leben«, brummte der Anführer.

Zwischen den spärlichen Bäumen waren schon die Glöckchen der Maultiere und das Knarren der Karrenräder zu hören. Gleich darauf erhob sich Geschrei, vermischt mit Waffengeklirr.

Angélique wußte nicht mehr, zu welchem Heiligen sie sich flüchten sollte. Und doch mußte sie verhindern, daß sich die geächteten Männer zu Banditenstreichen hinreißen ließen, die die Spürnasen der Polizei und die Soldaten zu ihren Schlupfwinkeln bringen würden. Unglücklicherweise kannte sie sie erst seit kurzem und hatte keinerlei Einfluß auf sie. Sie sprach nicht einmal ihren Dialekt. Hastig band sie Honorine an den Fuß eines Baums und lief zum Kampfort. Vielleicht konnte sie Menschenleben retten, sich mit den Kaufleuten verständigen .

Aber diese waren, statt sich ins Bockshorn jagen zu lassen, vom ersten Augenblick an entschlossen gewesen, sich mit allen Mitteln zu verteidigen. Sie besaßen Pistolen, deren sie sich, hinter ihren Karren verschanzt, bedienten. Zahlreiche Verwundete bedeckten schon die Straße.

Angélique schob sich neben den hinter einem Strauch knienden Anführer. »Zieht Euch zurück«, beschwor sie ihn.

»Dazu ist es jetzt zu spät. Wir brauchen ihre Waren und müssen ihnen ans Leben, damit sie nicht mehr reden können .«

Er sprang auf einen der Karren zu. Ein Pistolenschuß ließ ihn mitten im Lauf erstarren und zusammenbrechen. Ein Augenblick äußerster Verwirrung folgte. Die vier Kaufleute, die die Banditen entmutigt sahen, kamen aus ihrer Deckung hervor und machten sich an ihre Verfolgung. Ihre Knüppel mit einer Kraft gebrauchend, die man friedlichen Gewerbetreibenden nicht zugetraut hätte, verteilten sie nach allen Seiten Schläge, die Arme und Beine brachen und auf Schädeldecken dröhnten. Angélique erhielt einen heftigen Schlag in den Nacken. Betäubt, kaum noch fähig zu sehen, blieb ihr eben noch Zeit, den zu bemerken, der sie niedergeschlagen hatte: schwarz gekleidet - ohne Zweifel waren es Protestanten -, stämmig gebaut, klare, zornlose, aber entschlossene Augen. Saint-Honoré, der Kaufmann, mußte ihm ähneln. Ein zweiter Schlag, der sie an der Schläfe traf, ließ sie das Bewußtsein verlieren.

Mit einer fernen, furchtbaren Erinnerung kam sie wieder zu sich. Florimond befand sich in den Händen des Großen Coesre, und Cantor war von den Zigeunern gestohlen worden. Sie verfolgte sie mit der Polackin auf der schmutzigen Straße nach Charenton, nachdem sie aus dem fürchterlichen Gefängnis des Châtelet geflüchtet war. Sie öffnete die Augen.

Sie war im Gefängnis. Allein, auf einer Schütte feuchten, fauligen Strohs ausgestreckt.

Der Schock, den sie empfand, blieb jenseits aller Gefühle. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, die unvorsichtigen Salzschmuggler, das unselige Schicksal, ihr eigenes Unglück zu verfluchen - nur noch wenige Stunden, und sie hätte sich einschiffen können, ihre Überfahrt zur bretonischen Küste war schon vereinbart. Sie versank in eine passive Träumerei, ohne sich zu fragen, in welches Nest man sie wohl geschleppt hatte. Les Sables oder Talmont? Noch ob man sie erkannt hatte und welche Strafe auf sie warten mochte. Ihr Nacken schmerzte sie, und sie fühlte sich müde und krank.

So lag sie unbeweglich und kraftlos bis zu dem Augenblick, in dem sie heiß ein Gedanke durchfuhr und sie von ihrem elenden Lager hochtrieb: Honorine!

Ein Alptraum überfiel sie.

Was war nach dem unglückseligen Gefecht aus dem Kind geworden? Angélique hatte sie, an einen Baum gebunden, zurückgelassen. Hatten die mit heiler Haut davongekommenen Salzschmuggler sie bemerkt? Hatten sie sich ihrer angenommen? Hatten sie sie befreit? Und wenn sie von niemand entdeckt worden war? Wenn sich die Kleine noch immer dort befand, allein im Wald? . Die Lichtung lag ein Stück von der Straße entfernt. Durfte sie hoffen, daß jemand ihr Geschrei hören würde?

Angélique spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. Der Abend sank; hinter dem Gitter des Kellerlochs kündigte rötliches Licht die Dämmerung an.

Sie trommelte an die Tür des Kellers, aber niemand rührte sich, niemand antwortete auf ihre Rufe. Sie kehrte zum Ausguck zurück und klammerte sich an die Gitterstäbe. Die Öffnung befand sich auf gleicher Höhe mit dem Erdboden. Ein ungewisses Geräusch verriet ihr, daß das Meer nicht weit sein konnte. Sie rief noch einmaclass="underline" vergeblich. Die Nacht brach an, gleichgültig gegen die lebendig eingemauerten Gefangenen, die vor dem Morgen nichts von ihresgleichen erhoffen durften.

Für einige Momente, während derer sie schreiend wie eine Verdammte an den Wänden ihres engen Kerkers entlanggelaufen sein mußte, verlor sie jedes Gefühl für Zeit und Ort. Ein leichtes Geräusch brachte sie zur Vernunft zurück. Es war das Geräusch von Schritten draußen vor dem Fenster. Angélique warf sich von neuem gegen das kalte, rostige Metall der Gitterstäbe. Die Schritte näherten sich. Zwei Stiefel erschienen auf der anderen Seite der Maueröffnung.