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»Um Gottes und Jesu willen, wer auch vorübergeht ... bleibt stehen. Hört mich an«, rief Angélique.

Die Stiefel verharrten unbeweglich.

»Nehmt meine Bitte mitfühlend auf.«

Niemand antwortete, aber die Stiefel rührten sich nicht.

»Mein Mädchen ist im Wald«, begann sie erneut. »Sie ist verloren, wenn niemand ihr hilft. Sie wird vor Kälte und Hunger umkommen. Die Füchse werden sie zerfleischen ... Habt Mitleid mit ihr.«

Sie mußte den Ort angeben, aber sie kannte sich in dieser Gegend nicht aus.

». Nicht weit von der Straße, auf der Räuber einen Zug Kaufleute überfielen .«

War es gestern oder heute gewesen? Sie fragte es sich, von einem jähen Schwindel ergriffen.

». Ein Pfad führt von der Straße ab . ein Grenzstein ist in der Nähe .« Sie erinnerte sich unversehens dieser Einzelheit. »Wenn Ihr in diesen Pfad einbiegt, werdet Ihr eine Lichtung finden . Dort habe ich sie an einen Baum gebunden . Mein Töchterchen ist noch nicht ganz zwei Jahre alt .«

Die Stiefel setzten sich in Bewegung. Der Passant nahm seinen Spaziergang wieder auf. Hatte er auf die wirren Satze gehört, die aus dem Kerkerloch gedrungen waren? »Irgendeine angekettete Tollhäuslerin«, würde er sich sagen. »Es gibt alle möglichen Frauen in den Gefängnissen .«

Sie erwachte aus unruhigem, ein Gefühl würgender Übelkeit zurücklassendem Schlaf, in dem sie unablässig das Weinen ihres Kindes gehört hatte, und sah einen Gefängniswärter und zwei bewaffnete Männer vor sich, die sie grob aufforderten, sich zu erheben und ihnen zu folgen.

Sie ließen sie eine steinerne Wendeltreppe hinaufsteigen und führten sie oben in einen Saal mit gewölbter Decke, dessen feuchte Wände von Salz zerfressen waren. Ein Kohlenbecken verbreitete laue Wärme. Es diente übrigens nicht nur dem Zweck, die an ein mittelalterliches Grabgewölbe gemahnende Temperatur zu mildern. Angélique begriff es, als sie die Umrisse eines robusten Mannes entdeckte, dessen scharlachrotes Trikot muskulöse Arme freiließ. Über das Becken gebeugt, drehte er langsam und sorgfältig einen mit einem Holzgriff versehenen langen Eisenstiel in der Kohlenglut.

Unter einer Art Baldachin aus stark ausgeblaßtem blauem, mit Wappenlilien geschmückten Tuch im Hintergrund des Raums unterhielt sich ein Richter in langem schwarzem Talar und gerollter Lockenperücke mit einem der Kaufleute, genauer gesagt demjenigen, der Angélique niedergeschlagen hatte.

Sie plauderten gemächlich und nahmen sich nicht die Mühe, ihr Gespräch zu unterbrechen, als die bewaffneten Männer, die Angélique hereingeführt hatten, sie vor dem Henker auf die Knie stießen, ihr den Mantel abnahmen und sich anschickten, ihr das Mieder von den Schultern zu streifen.

Angélique setzte sich erbittert zur Wehr. Aber kräftige Fäuste hielten sie fest, sie hörte, wie der Rücken ihres Kleides zerriß. Ein rotes Licht schien vor ihren Augen zu zittern, näherte sich, näherte sich noch mehr .

Sie heulte auf wie eine Besessene.

Geruch nach verbranntem Fleisch stieg ihr in die Nase. Sie war so beherrscht von dem Verlangen, den sie bändigenden Händen zu entrinnen, daß sie nichts fühlte. Erst als sie sie losließen, nahm sie die grausame Verletzung ihrer Schulter wahr.

»Tüchtig, mein Junge!« knurrte einer der Bewaffneten, sich an seinen Kameraden wendend. »Um die da ruhig zu halten, braucht’s ein ganzes Regiment. Eine wahre Furie, möchte man sagen.«

Die Verbrennung strahlte ihren Schmerz in Angéliques Gehirn, in ihren linken Arm bis zu den Fingerspitzen aus. Sie lag noch auf den Knien und wimmerte schwach. Der Henker stellte das Folterinstrument an seinen Platz zurück, einen langen Stiel, an dessen Ende man einen vom vielen Gebrauch geschwärzten Stempel der königlichen Lilie geschmiedet hatte.

Der Richter und der Kaufmann sprachen noch immer. Ihre Worte hallten ziemlich laut unter den steinernen Wölbungen wider.

»Ich teile Euern Pessimismus nicht«, sagte der Richter. »Unsere Situation ist nach wie vor gefestigt, und es ist nicht wahr, daß der König den Untergang der Protestanten will. Im Gegenteil, er schätzt die Ehrlichkeit und Genügsamkeit unserer Glaubensgenossen. Hier in Sables, zum Beispiel, ist die Zahl der Katholiken so klein, daß drei reformierte Richter auf einen katholischen kommen. Und da der letztere sich ständig auf Entenjagd befindet, fällt es uns zumeist zu, die katholischen Streitigkeiten zu schlichten.«

»Was die Geschichte im Poitou nicht aus der Welt schafft. Ich versichere Euch, daß ich dort gewisse Dinge beobachten konnte, die mich einigermaßen beeindruckt haben .«

»Die Ereignisse im Poitou? . Eine einfache, wenn auch höchst bedauerliche Provokation, ich gebe es zu. Unsere Brüder haben sich einmal mehr für die ehrgeizigen Ziele der großen Herren wie der La Morinière mißbrauchen lassen.«

Der Richter stieg die Stufen seines Podiums hinunter und näherte sich der knienden Angélique. »Nun, meine Tochter, werdet Ihr aus dem, was Euch geschehen ist, eine Lehre ziehen? Mit Räubern und Schmugglern in den Wäldern herumzustreunen, ist nichts für eine Person von gutem Ruf. Von nun an werdet Ihr überall, wohin Ihr auch geht, der könig-lichen Justiz gehören. Ihr seid mit der Lilie gezeichnet worden. Jeder wird wissen, daß Ihr durch die Hände des Henkers gegangen und nicht unter die empfehlenswerten Personen zu zählen seid. Ich hoffe, daß dieser Umstand Euch geneigt machen wird, in Zukunft beim Handel mit Euren Reizen ein wenig mehr Vorsicht und Unterscheidung walten zu lassen .«

Sie hielt ihre Augen beharrlich gesenkt. Da sie nicht erkannt worden war, wollte sie ihnen auch keine Gelegenheit geben, sie genauer aufs Korn zu nehmen. Von allem, was er gesprochen hatte, war nur ein einziger Satz bis in ihr Begriffsvermögen gedrungen: »Ihr seid mit der Lilie gezeichnet worden.«

Sie fühlte das schimpfliche Zeichen, das aus ihr für immer eine Verstoßene machte, tief in ihr Fleisch eingegraben. Sie gesellte sich zur Schar der Frauen am Rande der Gesellschaft: der Freudenmädchen, Verbrecherinnen, Diebinnen .

Doch das belastete sie im Augenblick wenig. Alles war unwichtig mit Ausnahme der Notwendigkeit, so schnell wie möglich aus diesem Gefängnis herauszukommen und zu erfahren, was aus Honorine geworden war.

So ließ sie die endlosen Ermahnungen und Verwarnungen des Richters, die zuweilen einem pastoralen Sermon sehr ähnlich klangen, geduldig über sich ergehen und horchte erst bei seinen Schlußsätzen auf.

»Eingedenk dessen, daß ich Euch Nachsicht schulde, da Ihr zur reformierten Religion gehört, werde ich Euch nicht in diesen Mauern zurückhalten. Aber ich muß über das Heil Eurer Seele wachen und dafür sorgen, daß Ihr nicht von neuem in Eure Fehler verfallt. Ich kann nichts Besseres tun, als Euch einer Familie anzuvertrauen, deren erbauliches Beispiel Euch auf den Weg des Guten und zu Euren Pflichten gegen Gott zurückführen wird. Der hier anwesende Maître Gabriel Berne hat mir erklärt, daß er eine Dienstmagd für sein Haus und seine Kinder suche. Er ist bereit, Euch in seinen Dienst zu nehmen und so die von Christus empfohlene Vergebung der Sünden zu praktizieren. Erhebt Euch, zieht Euch an und folgt ihm.«

Angélique ließ es sich nicht zweimal sagen.

In der Gasse, in der sich Fischer, Muschelverkäuferinnen und Salinenarbeiter drängten, die mit ihren riesigen Rechen auf der Schulter vom Strand zurückkehrten, lauerte sie auf eine Gelegenheit, dem Kaufmann zu entkommen. Sie verdankte ihm zwar ihre Freiheit, hatte aber nicht die leiseste Absicht, ihm gefügig zu folgen, wie der Richter ihr eingeschärft hatte. Maître Gabriel schien ihre Gedanken zu erraten, denn er hielt sie fest am Arm. Sie erinnerte sich, daß er nicht lange fackelte, wenn es galt, seine kräftigen Fäuste zu gebrauchen, und daß er mit einem Knüppel umzugehen wußte. Obwohl friedlich wirkend, sah er nicht so aus, als ob gut Kirschen mit ihm zu essen sei.