Выбрать главу

Sie unterbrach sich für einen Moment, und man hörte nur das Kratzen ihres geschäftigen Messers gegen die Schale der Krabbe.

»Was mich zuerst tröstete«, nahm sie den Faden wieder auf, »war, daß ich genug zu essen hatte. Alle die Dinge in Reichweite zu haben, die einem so lange gefehlt hatten, verschaffte mir eine Art von Zufriedenheit, und während dieser Zeit vergaß ich. Und danach tröstete es mich, wenn ich das Meer betrachtete. Ich ging auf die Klippen und blieb dort lange Zeit. Ich hörte den Lärm der Hacken, die die Wälle und Türme La Rochelles, unserer stolzen Stadt, niederrissen. Aber das Meer war da, und niemand konnte es mir nehmen. Das tröstete mich, Tochter ... Und dann liebte mich ein Mann. Er war ein Papist. Es gab jetzt viele von der Sorte in La Rochelle. Es kam einem vor, als ob sie wie Pilze aus dem Pflaster wüchsen. Aber dieser konnte hübsche Liebesworte drechseln, und das war alles, was ich von ihm verlangte. Wir hätten geheiratet, aber was wären das für Umstände gewesen! Ich hätte mich vorher bekehren müssen, und das war nun wahrhaftig nicht nach meinem Geschmack. Er ist mit einem Schiff nach Saint-Malo gereist, wo er Verwandte und eine Erbschaft hatte. Ich habe ihn nicht wiedergesehen ... Was liegt daran! Ich hatte ein Kind von ihm, einen Jungen . und schließlich mußte ich weiterleben, nicht wahr? Kinder geben einem Kraft.«

Als Rebecca ihren Bericht beendet hatte, erhob sie sich und schüttelte ihre Schürze aus, um die Splitter der Schale loszuwerden, die sich in ihr verfangen hatten. Dann lauschte sie von neuem aufmerksam.

»Nein, es ist nur das Meer, das man hört. Man möchte meinen, es ärgert sich. Tun wir einen Blick hinaus.« In der Nische, in der sich das Bett erhob, öffnete sie ein mit Blei eingefaßtes Fenster und stieß den Laden zurück. Ein Windstoß trug den reichen Geruch der Algen und des Salzes herein. Das Getöse der sich an den Wällen brechenden Wogen zwang sie, ihre Stimme zu heben.

Wolken zogen rasch über den Himmel, sich in den seltsamen Nuancen geschmolzenen Bleis verfärbend, wenn sie am Mond vorüberglitten gleich vulkanischen Dämpfen, dahingleitenden tintigen Schärpen. Im Halbdunkel der unruhigen Nacht war allein die schwarze Masse der Wälle unbeweglich. Zur Linken zeichnete sich ein von einer hohen, gotischen Pyramide gekrönter Turm ab, auf dessen Spitze eine Laterne brannte: Leuchtzeichen für die Schiffe auf den Meeresarmen zwischen Inseln und Küste. Der Umriß eines mit einer Hellebarde bewehrten Wachtpostens war zu erkennen. Der Soldat stemmte sich mit gebeugtem Rücken gegen den Wind. Nachdem er die Flamme neu angefacht hatte, die man zwischen den Spitzbogen ihres Laternentürmchens tanzen sah, stieg er die gewundene Treppe wieder hinunter, um sich ins Wachtzimmer zu flüchten.

Das Haus Maître Gabriels war von den Wällen nur durch ein schmales Gäßchen getrennt. Ein behender Junge hätte sich damit amüsieren können, von einem der Fenster aus auf den Wallgang zu springen. Rebecca erklärte Angélique, daß sie alle Soldaten kenne, die tagsüber und nachts am Laternenturm Wache hielten. Denn sie enthülste ihre Erbsen oder stopfte die Strümpfe des Haushalts am offenen Fenster, während sie gähnend vorbeigingen und zuweilen stehenblieben, um ein wenig zu plaudern. Sie war die erste, die von jeder Neuigkeit im Hafen erfuhr, da die Wachen des Laternenturms die Ankunft der aus Holland, Flandern, Spanien, England oder Amerika eintreffenden Salz- oder Weinflotten, jedes Kriegs- oder Handelsschiffes aus dem Ausland oder La Rochelle signalisieren mußten. Sobald sich zwischen den Inseln Oléron und Ré ein weißes Segel am Horizont zeigte, hob der Mann sein Horn zum Mund. Während der Einfahrt in den Hafen läutete lange eine Glocke. Und der Makler, Kaufleute und Reeder bemächtigte sich wachsende Aufregung. All dieser Schiffe wegen, die täglich das Leben der ganzen Welt auf seine Kais schütteten, langweilte man sich nie in La Rochelle.

Einstmals hatte man die Ankunft der Schiffe vom Saint-Nicolas-Turm aus signalisiert, aber seitdem er zur Hälfte geschleift war, fiel diese Ehre dem Laternenturm zu.

Für das Haus Maître Gabriels war es ein wahres Glück. Rebecca konnte mit Recht den Herrn loben, daß er sie auf der Suche nach einer Stellung hierhergeführt hatte.

Sie zog die Läden wieder zu, verschloß das Fenster, und die Stille kehrte zurück, nun tiefer noch, da sie dem Heulen des Sturms entrissen war. Angélique ließ ihre Zunge über die Lippen gleiten. Sie schmeckten frisch und salzig.

Sie bemerkte, daß Honorine erwacht war. Im Bett aufgerichtet, ähnelte sie mit ihrem leuchtenden, auf die schmalen nackten Schultern fallenden Haar einer kindlichen Sirene, die dem Ruf der Wogen lauscht. Ihre ins Ungewisse gerichteten Augen waren voll eines seltsamen Traums. Angélique bettete sie wieder zurecht und deckte sie zu. Sie erinnerte sich, daß Honorine das Zeichen Neptuns trug.

Der kleine siebenjährige Junge saß auf der untersten Stufe der Treppe, die zu den oberen Etagen führte.

Im Schatten verborgen, hatte er offenbar gierig auf die Erzählungen der alten Dienerin gelauscht.

Mehrmals den Kopf schüttelnd, schlurfte Rebecca an ihm vorbei.

»Dies Kind hat seiner Mutter das Leben gekostet, als es zur Welt kam. Man liebt es nicht sehr .«

Murmelnd begann sie die Stufen hinabzusteigen.

». Waisen, die leiden, Mütter, die weinen, das ist nun mal so . Der Tränenreigen wird so bald nicht aufhören, sage ich Euch .«

Die weiße Spitze ihrer Haube verlor sich in der Dunkelheit.

»Du mußt schlafen gehen«, sagte Angélique zu dem kleinen Jungen.

Folgsam stand er auf.

Sein Gesicht wirkte kränklich. Die Nase lief. Das struppige Haar betonte sein elendes Aussehen noch mehr.

»Wie heißt du?« fragte sie.

Er antwortete nicht und machte sich daran, an der Wand entlangstreifend die Treppe hinaufzuklettern, wie eine ängstliche Ratte. Als er schon im nächsthöheren Stockwerk angelangt war, fiel ihr ein, daß er nicht um Licht gebeten hatte.

Sie lief ihm nach.

»Warte, Kleiner, du siehst ja nichts, du wirst noch fallen.«

Sie nahm seine Hand, eine kleine, kalte, zarte Patsche, und die Berührung versetzte ihrem Herz einen Stoß. Es hatte etwas mit dieser unendlich zärtlichen Geste zu tun, die seit langem vergessen gewesen war.

Er stieg noch immer, und sie folgte ihm. Er war wie ein kleiner, mysteriöser, kaum leibhaftiger Schatten, der sie mit sich zog. Er war es jetzt, so schien es, der sie bei der Hand genommen hatte.

»Schläfst du hier?«

Er nickte und sah diesmal zu ihr auf, als ob er nicht an ihre Gegenwart zu glauben vermöge. Man hatte im Speicher ein Bett aufgestellt, das eher ein dürftiges Lager war. Der Strohsack schien nicht oft geschüttelt worden zu sein, die Leintücher waren von zweifelhafter Sauberkeit, die Decken für die Jahreszeit ungenügend. Im Winter mußte es hier eisig sein. Im Ausschnitt einer runden Luke zeigte der Mond für einen Augenblick sein bleiches Gesicht und erhellte unter den sich kreuzenden schweren Balken des Daches ein Durcheinander wunderlicher Gegenstände, Truhen und abgestellter Möbelstücke.

Unmittelbar gegenüber dem Bett stand sogar ein großer, gesprungener Spiegel.

»Gefällt’s dir hier?« fragte sie das Kind. »Frierst du nicht? Hast du keine Angst? Sicherlich bewegt sich hier manchmal etwas.«

Sie fing seinen scheuen Blick auf.

»Gewiß gibt es hier Ratten«, sagte sie sich. »Und er hat Angst.«

Sie begann ihn auszuziehen. Die mageren Schultern unter ihren Händen erinnerten sie an den zarten Körper Florimonds, als er noch klein gewesen war, die verschlossenen Lippen an die Cantors, der so wenig gesprochen, aber insgeheim gesungen hatte, die leise Trauer des Blicks an das Kind Charles-Henri, das von seiner Mutter träumte.

Er schien erstaunt, daß man ihm beim Auskleiden half. Er wollte selbst seine Kleidungsstücke ausziehen, faltete sie sorgfältig zusammen und legte sie auf einen Schemel. In seinem weißen Hemd kam er ihr noch magerer vor.