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»Dieses Kind stirbt vor Hunger.«

Sie nahm ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich. Tränen quollen aus ihren Augen, ohne daß sie ihrer achtete. Sie war immer eine schlechte Mutter gewesen. Wie ein Tier hatte sie sie gegen Kälte und Hunger verteidigt, weil sie ihre Jungen waren, aber die Erquickung des Herzens, die man empfand, wenn man sie an sich drückte, die Augen mit ihrem Anblick füllte, ihr Leben lebte, hatte sie weder gekannt noch gesucht. Die Wurzeln, die sie mit ihnen verband, hatte sie erst gespürt, als man sie ihr so grausam entrissen hatte. Die offene Wunde blutete noch immer, den Schmerz darüber verewigend, was hätte sein können und was sie versäumt hatte.

»Oh, meine Söhne! Meine Söhne!« Sie waren zu rasch gekommen. Sie waren ihr im Wege gewesen. Zuweilen hatte sie ihre Gegenwart, die sie zwang, sich von ihrem eigenen Schicksal abzuwenden und sich mit dem ihren zu beschäftigen, als störend empfunden. Sie war für die zarteren Glücksgefühle noch nicht reif gewesen. Eine Frau mußte sich erst voll entfalten, bevor sie Mutter werden konnte.

Sie brachte den kleinen Jungen zu Bett und lächelte ihm zu, um zu verhindern, daß er sich über ihre Tränen wunderte. Nachdem sie ihn geküßt hatte, stieg sie wieder hinab.

Vor dem Bett in der Küche schlüpfte sie aus ihrem Mieder und bürstete lange ihr Haar. Sie wollte nun nicht mehr fort. Das Haus am Wall, am Meer schien ihr voller Hoffnung. Es würde sie beschützen.

Am folgenden Tage übergab ihr Madame Anna nicht ohne Feierlichkeit und passende Worte eine in schwarzes Pergament gebundene Bibel.

»Mir ist aufgefallen, meine Tochter, daß Ihr bei den Antworten der Gebete stumm bleibt. Offenbar habt Ihr Euren Glauben lau werden lassen. Nehmt also das Buch der Bücher, aus dem jede gläubige Frau den ihrer Lage förderlichen Geist des Gehorsams, der Treue und Ergebenheit schöpfen kann.«

Allein geblieben, machte sich Angélique, nachdem sie die Bibel unentschlossen in ihren Händen hin und her gewendet hatte, auf die Suche nach Maître Gabriel. Ein Kommis sagte ihr, daß er sich im Erdgeschoß, in den Magazinen aufhalte, wo er mit seinen Rechnungsbüchern beschäftigt sei.

Durch den Hof und über eine Stufe hinunter gelangte man zu zwei oder drei großen Räumen, in denen der Kaufmann seine kostbareren Produkte unterstellte, unter anderem Proben von Charente- und Branntweinen, die er in großen Posten nach Holland und England lieferte. Gerade verabschiedete sich ein englischer Kapitän, nachdem er eine Bestellung aufgegeben und zweifellos auch seinem Gaumen etwas zugute getan hatte. Branntweinduft schwebte in der Luft, Fliegen summten um die beiden gläsernen Humpen, die im Laufe der Verhandlung geleert worden waren.

Der englische Kapitän ging sehr steif an ihr vorbei, nahm sich aber die Mühe, seinen verwaschenen Filzhut vor Angélique zu ziehen und ein Kompliment über »the charming wife of Maître Gabriel« zu drechseln. Dieser verbesserte, ohne die Nase von seinem Buch zu heben:

»Not my wife, servant .«

»Oh, yes«, sagte der Engländer und grüßte erneut mit entzückter Miene.

Angélique, die kein Englisch verstand, hatte dem Gespräch nicht folgen können und suchte es auch nicht zu deuten. Die Folgen ihres bevorstehenden Geständnisses beschäftigten sie zu sehr.

»Maître Gabriel«, sagte sie, all ihren Mut zusammennehmend, »ich muß ein Mißverständnis aufklären. Ich hätte es schon früher tun sollen. Ich gehöre nicht zur reformierten Religion, wie Ihr und die Euren zu vermuten scheinen. Ich . ich bin katholisch.«

Der Kaufmann fuhr auf und schien verärgert.

»Warum habt Ihr Euch dann die Lilie einbrennen lassen?« rief er. »Ihr hättet Eure Konfession bekennen müssen. Dann hättet Ihr Euch diese schreckliche Marter erspart. Das Gesetz sagt es ausdrücklich: Jede irgendeines Delikts schuldige reformierte Frau muß mit der königlichen Lilie gezeichnet und gepeitscht werden. Dank dem unseren Glauben angehörenden Richter, den wir in Les Sables antrafen, konnte ich bewirken, daß man Euch die Peitsche erließ. Über den ersten Teil der Strafe konnte er sich jedoch nicht hinwegsetzen, da man Euch mit gefährlichen Banditen zusammen erwischte. Wißt Ihr, daß drei von ihnen gehängt und die übrigen zu den Galeeren verurteilt wurden?«

»Ich wußte es nicht. Arme Kerle!«

»Es scheint Euch nicht allzusehr zu berühren. Immerhin waren es Eure Kameraden .«

»Ich kannte sie kaum.«

Maître Gabriel machte eine überraschte Bewegung, die seine Rechnungen mit Tintenspritzern zierte.

»Warum habt Ihr das nicht rechtzeitig gesagt, Unglückselige?«

Er trocknete sorgfältig die Spritzer und wischte die Feder ab.

»Für eine Katholikin bedeutet das Zeichen der Lilie, daß sie sich schimpflicher Vergehen schuldig bekannt hat: des Mordes, der Prostitution, des Diebstahls. Ihr riskiert, ins Gefängnis gesteckt oder in die Kolonien nach Kanada geschickt zu werden, wenn man Euch entdeckt. Warum habt Ihr nicht rechtzeitig gesprochen?«

Er musterte sie aufmerksam und fuhr gedämpft fort:

»Vielleicht legtet Ihr keinen Wert darauf, allzu viele Fragen beantworten zu müssen?«

»So ist es, Maître Gabriel. Ich legte keinen Wert darauf. In jenem Augenblick dachte ich nur an meine Tochter. Ich wußte noch nicht, daß Ihr sie gerettet hattet. Ich habe alles mit mir tun lassen, ohne daß ich recht wußte, was geschah . jetzt ist es zu spät. Ich bin fürs Leben gezeichnet. Aber Ihr, Maître Gabriel, seid der einzige, der es weiß. Wenn Ihr mich nicht verratet .«

»Ich habe Euch bereits in mein Haus aufgenommen. Niemand wird Eure Sicherheit antasten, solange Ihr Euch unter meinem Dach befindet. Das ist das alte Gesetz der Gastfreundschaft.«

»Ihr jagt mich also nicht fort?«

»Warum sollte ich Euch verjagen?«

»Ich will versuchen. Euer Vertrauen nicht zu enttäuschen, Maître Gabriel. Indessen ... muß ich Euch gleich sagen .«

»Ich weiß, was Ihr mir sagen wollt«, brummte er, »Daß Ihr nicht daran denkt, Euch zu bekehren. Nun, trotzdem hindert Euch nichts, die Bibel zu lesen. Öffnet sie jeden Tag auf irgendeiner Seite. Jedesmal werdet Ihr die Antwort finden, die Euch fehlt. Ihre Lektüre wird Euch ein vergessenes Land ins Gedächtnis zurückrufen und das Herz erheben.«

Er legte sie in ihre Hände zurück.

Sonne - südliche Sonne - erfüllte den Hof, in dessen Mitte sich eine Palme mit behaartem Stamm erhob und ihre spitz zulaufenden Wedel einem Himmel von durchsichtigem, klarem Blau entgegenstreckte. Längs der Mauer, nahe einer Bank, sah man einen Busch spanischen Flieders, eine Reihe Stockrosen, die so groß wie Kohlköpfe waren, und in antiken Krügen Büschel brauner und gelber Levkojen. In einer Ecke, unter einem mit Muscheln ausgelegten Bogen, murmelte ein Springbrunnen und vollendete die exotische Atmosphäre dieses halb wie ein Patio, halb wie ein Garten wirkenden Hofes. Über all dies schloß der hohe Torweg seine schützenden Flügel.

Angélique kehrte noch einmal zurück, um die auf dem Tisch stehengebliebenen Gläser zum Abwaschen in die Küche mitzunehmen.

»Entschuldigt, Maître Gabriel, daß ich Euch von neuem störe. Ist Madame Anna für das Haus verantwortlich? Wird sie mir Anweisungen geben?«

»Meine Tante hat noch niemals eine Kasserolle von einem Hut unterscheiden können«, knurrte er. »Wenn sie sich einmischt, ist niemand geholfen. Außerdem langweilt es sie.«

»Wer soll also den Haushalt leiten?«

»Warum nicht Ihr?« fragte er, sie über seine Brillengläser hinweg betrachtend. »Ihr seht mir aus, als ob Ihr in diesen Dingen erfahren seid. Daß in der Schüssel etwas zu essen ist und kein Staub auf den Möbeln liegt, ist alles, was ich verlange. Für die notwendigen Einkäufe werdet Ihr von mir Geld erhalten. Hier, nehmt das.«