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Maître Gabriel bedauerte es, daß der Junge nicht die strenge Disziplin einer höheren Schule kennenlernen sollte. Er hatte deshalb beschlossen, ihn nach Holland zu schicken, wo er sich wenigstens auf dem Gebiet des Handels solide Kenntnisse erwerben würde.

Angélique sah seinem Aufbruch betrübt entgegen. So manches an Martial erinnerte sie an ihren Sohn Florimond. Hinter seiner lächelnden Ungezwungenheit erkannte sie die Unruhe des Jünglings wieder, der sich auf Ungewissem Boden voranbewegt und angesichts der Gesellschaft, in der ihm zu leben bestimmt ist, entdeckt, daß sein Platz schon außerhalb ihrer Grenzen ist. Diese schreckliche Entdeckung war es, die Florimond dazu getrieben hatte, seine Mutter zu verlassen, zu fliehen, einen Winkel der Erde zu suchen, wo er er selbst sein konnte und nicht mit dem doppelten Fluch seiner Eltern belastet war.

Auch Martial würde eines Tages fliehen wie alle diese jungen Burschen, die die unglaubliche Verblendung der Erwachsenen noch an diesem verdammten Ufer zurückhielt.

An diesem Tage hockten sie, dicht aneinandergedrängt, zusammen auf einem Felsen, so in Anspruch genommen von irgend etwas, daß sie ihre Annäherung nicht bemerkten. Der Wind spielte in ihren langen Haaren und zerrte an ihren über der Brust offenen Hemden. Angst packte sie bei dem Gedanken, daß die Maschine, die sie zermalmen würde, schon bereit stand, geduckt wie ein Untier im Herzen der Stadt selbst.

Martial las mit beteiligter Stimme:

»>. Niemals ist es kalt auf den Inseln Amerikas. Das Eis ist unbekannt, und es wäre ein Wunder, dort welches zu sehen. Es gibt dort keine vier gleich langen und andererseits unterschiedlichen Jahreszeiten wie in Europa, sondern nur zwei. Die eine, von April bis November, ist die der häufigen Regenfälle, die andere die der Trockenheit ... Doch ist die Erde immer mit angenehmem Grün bewachsen und fast zu jeder Zeit mit Blüten und Früchten geschmückt .<«

»Gibt es dort drüben Weinreben?« unterbrach ein Junge mit strohfarbenem Haar. »Mein Vater ist nämlich ein Flüchtling von der Charente, ein Weinbauer. Und was sollten wir in einem Land tun, in dem es keine Reben gäbe?«

»Ja, es gibt dort Weinreben«, versicherte Martial triumphierend. »Hört zu, wie es weitergeht ... >Die Rebe gedeiht sehr gut auf diesen Inseln, und außer einer Art wilden Weins, der von Natur aus in den Wäldern wächst und schöne, große Trauben trägt, sieht man vielerorts kultivierte Reben wie in Frankreich, die jedoch zweimal jährlich tragen, zuweilen sogar häufiger .<«

Der Geographieunterricht setzte sich mit der Beschreibung der Brotbäume, der Papayas, an deren Ästen melonenähnliche Früchte sprießen, der köstliche Pflanzenmilch enthaltenden Pilze fort. »Der Seifenbaum produziert eine flüssige Seife, die zum Waschen und Bleichen der Wäsche geeignet ist, die Flaschenkürbis-Pflanze erzeugt Gefäße und Utensilien für den Haushalt, die von Handwerkern nicht mehr hergestellt zu werden brauchen.«

»Und von welcher Farbe sind die Bewohner jener warmen Inseln? Rot, mit Federn, wie in NeuFrankreich?«

Martial durchstöberte das kleine Buch und erklärte, daß er darüber keine näheren Angaben finden könne.

Einmütig wandten sie sich Angélique zu, die, mit Honorine auf den Knien, in ihrer Nähe saß.

»Wißt Ihr etwas über die Hautfarbe dieser Inselbewohner, Madame?«

»Ich nehme an, sie sind schwarz«, meinte sie, »da man seit langem Sklaven aus Afrika auf diese Inseln bringt.«

»Aber die Karibier selbst sind keine Schwarzen«, warf der junge Thomas Carrère ein, der gern den Erzählungen der Seeleute am Hafen zuhörte.

Martial setzte der Unterhaltung ein Ende:

»Wir brauchen ja nur diesen Pastor Rochefort zu fragen.«

»Den Pastor Rochefort, sagst du?«

Angélique war zusammengezuckt.

»Sprichst du von dem großen Reisenden, der ein Buch über die Inseln Amerikas geschrieben hat?«

»Das ich eben meinen Kameraden vorlese. Seht!«

Erzeigte ihr die vor kurzem erschienene, sauber gebundene Ausgabe und fügte gedämpft hinzu:

»Man riskiert fünfhundert Livres Strafe und Gefängnis dazu, wenn man sich im Besitz dieses Reiseberichts erwischen läßt, weil er den Protestanten Lust zum Auswandern machen könnte. Wir müssen also sehr aufpassen .«

Angélique wandte die Seiten um, die mit naiven, Bäume oder Tiere jener fernen Landstriche darstellenden Zeichnungen illustriert waren.

Aus dem Nichts ihrer Vergangenheit stieg von neuem eine vergessene Vision auf, für die sie nie eine Erklärung gefunden hatte und die dennoch vom Siegel des Schicksals geprägt schien: der Besuch jenes Pastors Rochefort in Monteloup, als sie ungefähr zehn Jahre alt gewesen war.

Jener düstere, einsame Reiter, nach langer Reise vom Ende der Welt während eines Gewittersturms eingetroffen, hatte von unbekannten, seltsamen Dingen gesprochen, von roten Männern mit Federn im Haar, von jungfräulichen Ländern, die von vorzeitlichen Ungeheuern bevölkert waren.

Damals jedoch - mehr als zwanzig Jahre waren inzwischen vergangen - hatte das Befremdende, Merkwürdige dieses Besuchs weder in seinem ungewöhnlichen Erscheinen noch in dem exotischen Charakter seiner Äußerungen gelegen. Nein, sein Besuch war der eines Boten des furchtbaren, fast unbegreiflichen Schicksals gewesen, gleich einem Rufer aus der Ferne. Diesem vom anderen Ende der Welt herüberklingenden Ruf hatte ihr ältester Bruder Josselin alsbald geantwortet. Er hatte seine Familie, sein Land verlassen, und niemand hatte jemals erfahren, was aus ihm geworden war.

»Aber jener Pastor Rochefort muß längst tot sein«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr schwach und unsicher schien.

»O nein! Er ist sehr alt, aber er reist noch immer.«

Der Junge fuhr leiser fort:

»Im Augenblick ist er in La Rochelle. Niemand darf erfahren, wer ihn verbirgt, sonst würde er sofort verhaftet. Interessiert es Euch, ihn zu sehen und zu hören, Madame?«

Und da sie ein bejahendes Zeichen machte, schob er ihr etwas in die Hand. Es war ein rohes Stück Blei, in das eine Taube und darunter ein Kreuz eingedrückt waren.

»Mit dieser >Marke< könnt Ihr zu der Versammlung gehen, die in der Nähe des Dorfs Jouvex stattfinden wird«, erklärte ihr Martial. »Dort werdet Ihr den Pastor Rochefort sehen und hören. Er wird dort sprechen, denn für ihn wird die Versammlung abgehalten. Mehr als zehntausend der Unseren werden kommen .«

Der Junge war über das Ziel hinausgeschossen, als er sich eingebildet hatte, daß die »Versammlung in der Einöde«, zu der sich Angélique begab, zehntausend Gläubige vereinigen würde. Die Furcht hielt viele von ihnen fern, und die ausgetrocknete, von Deichen umschlossene Salzgrube vermochte ohnedies nur einige tausend Pilger zu fassen.

Die außer Betrieb gesetzte Salzgrube war ausgewählt worden, weil sie eine unübersehbare, enge Schlucht bildete, begrenzt von zwei felsigen Kämmen, die sie dem Blick jener entzogen, deren Weg durch die sumpfige Ebene um La Rochelle führte. Das Meer war nahe und übertönte das Gemurmel der Stimmen durch das Geräusch seiner Wellen, Man begrüßte sich beim Eintreffen und wählte sich einen Platz, während man flüchtige Bemerkungen tauschte.

Ein Halbkreis von Kalkfelsen bildete eine Art von Amphitheater um einen kleinen Tisch herum, vor dem der Prediger sprechen sollte.

»Das dort ist die Kanzel, und der andere, den sie eben bringen, ist der Tisch des Abendmahls«, erklärte ihr Martial.