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Tapfer stimmte der Pastor Rochefort den Gesang des Moses an:

>»Ich will dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Roß und Mann hat er ins Meer gestürzt.

Der Herr ist meine Stärke und mein Lobgesang und ist mein Heil .<«

Seine vom Alter leicht gebrochene Stimme war noch immer kräftig. Aber er sang fast allein. Die ermüdeten, fröstelnden Leute nahmen nur zögernd den Psalm auf, den sie übrigens kaum zu kennen schienen.

Aus der Fassung gebracht, hielt der alte Mann inne, warf einen betroffenen Blick auf die Zuhörerschaft und fuhr in drängendem Ton fort:

»Habt ihr den Sinn dieses Berichts nicht verstanden, meine Brüder? Das Licht der Kerze erlischt unter dem Scheffel. Wenn die Juden der Sklaverei anheimgefallen wären, hätten sie schließlich die ägyptischen Götter angebetet. Das ist die Gefahr, die auf uns alle lauert. Man hat euch vor kurzem gefragt, ob ihr zu den Waffen greifen wollt, um euch zu verteidigen, oder ob ihr es vorzieht, euch in Ergebung den Verfolgungen zu unterwerfen, die euch zuteil werden. Ich habe das Wort ergriffen, um euch eine dritte Lösung vorzuschlagen: Auswandern! Neue, riesige Länder tun euch als Refugium ihre jungfräuliche Erde auf, die ihr zum Ruhme des Herrn zum Aufblühen bringen könnt, während sich eure Seelen in der unangefochtenen Ausübung eurer Religion entfalten .«

Seine Worte verloren sich im wachsenden Stimmendurcheinander der sich ausbreitenden Aufbruchsstimmung. Um Angélique herum hatten die Leute halblaut zu plaudern begonnen.

»Nun, wie steht’s mit Eurem Farbengeschäft im Languedoc?«

»Wenn wir die Fische salzten wie in Portugal, könnten wir das Doppelte unseres Fangs verkaufen, glaubt Ihr nicht? ... Aber das ist nun mal durch das Salzsteuergesetz verboten.«

»Für eine so große Versammlung wie diese hättest du schon deinen guten Rock anziehen können, Josias Merlut.«

»Bei diesem Schmutz! .«

Der Vorschlag des Pastors Rochefort schien offensichtlich niemand zu interessieren.

Das Rasseln einer Klapper, die ein junger Pfarr-gehilfe schwenkte, schuf erneut Schweigen. Pastor Tavenay warf seinem Kollegen einen Blick zu, der »Ich hab’s Euch ja gesagt« bedeuten mochte, und nahm das Wort.

Die Versammlung könne sich nicht auflösen, ohne daß man eine Abstimmung mit erhobener Hand vornehme, die klar darüber entscheiden würde, welchen Weg die Gläubigen La Rochelles in Zukunft einzuschlagen hatten.

Wer sei für bewaffneten Widerstand?

Niemand rührte sich.

Wer sei für Auswanderung?

»Ich! ... Ich!« schrie ein Dutzend Jungen aus der ersten Reihe.

»Ich!« brüllte Martial, indem er sich neben Angélique aufrichtete.

Die entrüsteten Proteste der Eltern übertönten die jugendlichen Stimmen, und der Advokat Carrère gab dem ihm zunächst sitzenden seiner Söhne eine Ohrfeige.

Der Sieur Manigault stand auf, eine füllige, kraftvolle Gestalt vor dem schwärzlichen Hintergrund der andern, und hob die Hand, um den Aufruhr zu beschwichtigen.

»Herr Pastor«, sagte er, sich mit Respekt an den alten, berühmten Reisenden wendend, »es ist für uns eine große Ehre gewesen, Euch zu hören, aber verwundert Euch nicht, wenn die Idee der Auswanderung in La Rochelle wenig Anklang findet.«

Er legte die Hand aufs Herz.

»La Rochelle . wir tragen es hier«, sagte er mit Nachdruck. »Es ist unsere Zitadelle, die von unseren Vätern begründete Stadt, für die sie auch gestorben sind. Keiner von uns kann sie verlassen.«

»Wäre es besser, von Eurem Glauben zu lassen?« rief der alte Pastor mit zitternder Stimme.

»Davon ist keine Rede. La Rochelle gehört den Hugenotten. Es wird immer den Hugenotten gehören. Seine Seele ist aus der Reformation geboren. Die Seele einer Stadt laßt sich nicht ändern.«

Beifall klang auf. Manigault hatte vernünftig gesprochen. Er hatte mit seinen Worten mitten ins Herz der Rochelleser getroffen.

»Was vermag man schon gegen uns?« hörte man murmeln. »Wir sind es, die das Geld besitzen.«

»Das ist klar! Ohne uns würde alles zusammenbrechen.«

»Monsieur Colbert soll Reformierte angefordert haben, um seine Fabriken in Schwung zu bringen.«

Den Blick auf ein Stück des grauen, weißgetüpfelten Ozeans gerichtet, das man zwischen den Dünen sah, blieb Angélique nachdenklich sitzen.

Einige Schritte von ihr entfernt betrachtete auch der Pastor Rochefort das Meer. Sie hörte ihn murmeln:

»Sie haben Augen und sehen nicht. Sie haben Ohren und hören nicht .«

Was sah er, der Mann mit dem hellseherischen Blick? Zählte er in der sich entfernenden Herde schon die Märtyrer, die Abtrünnigen? . Alle waren sie verdammt!

Die Furcht, die für kurze Momente gewichen war, schlich sich von neuem in Angéliques Herz. Es gab nur eins: fort. Die Küste war nicht sicher. Die Flut würde weiter steigen und eines Tages auch sie und Honorine erreichen. Allein, würde sie sich aus Überdruß vielleicht erreichen lassen. Aber sie mußte Honorine retten. Schweiß perlte auf ihrer Stirn bei dem bloßen Gedanken, daß die Dragoner des Königs sich Honorines bemächtigen, sie unter unflätigem Gelächter quälen und durchs Fenster auf die Piken werfen könnten.

Eilig machte sie sich auf, um zu ihrer Tochter zurückzukehren.

Regen fiel. Pfützen auf dem Weg spiegelten den weißlich-blassen Himmel. Ein Reiter überholte sie und wandte sich im Sattel halb nach ihr um. Es war Maître Gabriel.

»Wollt Ihr aufsitzen, Dame Angélique?«

Sie verspürte einen seltsamen Schock. Sie sah sich auf einer aufgeweichten Straße in einer ganz ähnlichen Umgebung, ein Reiter wandte sich nach ihr um, sein Lächeln glich dem Maître Gabriels.

»Nein«, hörte sie sich nach einem langen Augenblick sagen. »Ich bin nur Eure Magd, Maître Gabriel. Man würde klatschen.«

»Es ist wahr. Wir sind hier nicht auf der Straße nach Charenton nahe Paris.«

Der Schleier zerriß. Die Polackin war an ihrer Seite. Ihre Füße waren eisig wie heute.

Wie heute trug sie die Angst um ein bedrohtes Kind im Herzen: um den von den Zigeunern entführten Cantor. Reiter hatten haltgemacht. Einer von ihnen hatte sie hinter sich aufs Pferd genommen und nach Paris zurückgebracht. Es war ein junger Protestant gewesen, Sohn eines Kaufmanns aus La Rochelle.

»Erkennt Ihr mich jetzt?« fragte der Kaufmann.

»Ja, Ihr seid der Reiter, der mir vor Jahren an einem Winterabend geholfen hat.«

Wie erstarrt ging sie unter dem Regen dahin. Zwölf Jahre versanken. Die beiden Szenen waren einander gleich wie Zwillinge. Derselbe Hauch von Beklemmung, von unendlicher Einsamkeit haftete ihnen an. In ihre totale Verlassenheit brachten das Gesicht eines fremden Mannes, ein mitfühlendes Lächeln flüchtigen Trost.

Das war es vor allem, was sie zunächst an dieser Entdeckung frappierte: die Ähnlichkeit der beiden Situationen, zwischen denen die schwindelnden Gipfel der Ehre und des Reichtums am Hofe Frankreichs lagen.

»So ist es also notwendig gewesen«, sagte sie sich, »daß du zweimal den höllischen Kreis durchlaufen mußtest, um zu verstehen ... zu verstehen, daß für dich kein Platz in diesem Königreich ist, daß du fortgehen mußt ... fort übers Meer.«

Mit einer Mischung aus Erleichterung und Demütigung fuhr sie in Gedanken an Maître Gabriel bei sich fort: »Glücklicherweise hat er mich nur in Not gekannt ...« Er mußte die Erinnerung an eine Bettlerin der Vorstädte bewahrt haben und hatte sie nun als Straßenräuberin wiedergefunden. Weder das eine noch das andere war besonders vertrauenerwek-kend. Die Großherzigkeit, mit der er sie in sein Haus aufgenommen hatte, war darum nur noch bewundernswerter. Wie wenig paßte es zu der sonstigen Bedächtigkeit und Vorsicht seines Charakters!