Seit ihrer Rückkehr nach Plessis hatte sie ihn zu sich rufen wollen und mühsam, mit vor Erschöpfung immer wieder versagender Stimme Maître Molines einen Brief für ihren Bruder, den R. P de Sancé, diktiert. Sie wußte nicht, daß diese Botschaft Montadour Anlaß zu erheblichem Verdacht gegeben hatte. Da seine Bildung mehr als lückenhaft war, hatte er sich deren Inhalt durch den Intendanten vorlesen und sie nach sorgfältiger Prüfung seiner Verantwortlichkeiten zunächst an Monsieur de Marillac expedieren lassen. Der Brief hatte nichtsdestoweniger seine Bestimmung erreicht, denn sie erhielt die Antwort des Jesuiten.
Sie erfuhr, daß der R. P de Sancé vom König angewiesen worden war, den jungen Florimond de Morens im Seminar zu belassen, bis Seine Majestät selbst es für gut befinden würde, ihn seiner Mutter zurückzugeben. Der R. P de Sancé hieß die Entscheidung des Souveräns gut, der sich selbst um den Jüngsten seiner Untertanen sorge. Florimond habe in der Tat nichts Gutes vom Einfluß einer Frau zu erwarten, deren Verhalten sich als ebenso undankbar wie unbesonnen erwiesen habe. Sobald sie Beweise aufrichtiger Reue gebe und vom König wieder in Gnaden aufgenommen werde, stehe dem Wiedersehen mit ihrem Sohn, dem sie fortan nicht mehr das beklagenswerte Beispiel aufrührerischer Unüberlegtheit böte, nichts mehr im Wege. Zudem sei das Seminar für einen Knaben von zwölf Jahren ohnehin ein passenderer Ort als die Umgebung einer Mutter, die sich stets seltsam unbeständig und wankelmütig gezeigt habe. Florimond trete in die Jünglingszeit ein. Sein Onkel bekannte, daß er fürs Studium zwar begabt, aber faul, trotz des Anscheins von Offenheit schwer zu durchschauen und, alles in allem, hinterhältig sei. Mit einiger Beharrlichkeit werde man aus ihm vielleicht einen guten Offizier machen können.
Raymond de Sancé schloß mit sibyllinischen Worten, die seine Bitterkeit verrieten. Er sei es müde, schrieb er, die Last der Irrtümer seiner Brüder und Schwestern auf seinen Schultern zu tragen und als einziger den Namen de Sancé de Monteloup vor der königlichen Ungnade zu bewahren. Bald würde auch er sie spüren müssen, obwohl er immer ein treuer Untertan des Königs gewesen sei und es bleiben wolle. Aber wie sollte man der Unzufriedenheit Seiner Majestät entgehen, wenn man sich jahrein, jahraus für schuldig Gewordene einsetzen müsse, deren Starrköpfigkeit nur durch ihre unglaubliche Leichtfertigkeit übertroffen werde. Hatten die harten Lektionen nicht genügt, Angélique zu zähmen? Hatte er selbst sie nicht ständig gewarnt wie auch Gontran, Denis und Albert? Was nützten also alle Vorwürfe und Ermahnungen? Ihr wildes, unbeherrschtes Blut behielt dennoch die Oberhand. Eines Tages würde er überhaupt darauf verzichten, sich noch für sie einzusetzen ...
Diese Antwort empörte Angélique mehr als alles andere. Es war unwürdig, ihr Florimond zu verweigern. Der vaterlose Florimond gehörte nur ihr. Ihr allein. Er war für sie ein Freund, ein Kamerad. Der einzige lebende Beweis ihrer verlorenen Liebe. Florimond und Cantor, ihre beiden ältesten Söhne, waren ihr während ihrer Irrfahrt durchs Mittelmeer sehr nahegekommen.
Es schien ihr, als habe sie Cantors Liebe wiedergewonnen, indem sie ihm auf seine tollkühne Odyssee gefolgt war und den geheimen Traum des kleinen Pagen geteilt hatte. Er und sie waren ein wenig zu Komplizen geworden, das tote Kind und seine Mutter in derselben Falle gefangen, und seitdem empfand sie ihn weniger fern, weniger ausgelöscht.
Aber sie brauchte Florimond, ihren Ältesten, in dessen Zügen jenes andere Bild wieder Gestalt anzunehmen begann, das die Zeit zu verwischen drohte.
Mit ohnmächtigem Zorn las sie den Brief von neuem. Dann ließen die Vorwürfe ihres Bruders sie innehalten. Warum wandte er sich diesmal gegen die ganze Familie, statt wie gewöhnlich nur sie, Angélique, allein für ihre Schwierigkeiten verantwortlich zu machen? In ihrer Kindheit war es immer Angéliques Schuld gewesen, wenn Katastrophen eintraten. Dies-mal aber sprach er in der Mehrzahl.
Sie überlegte. Ein Satz Monsieur de Marillacs kam ihr ins Gedächtnis zurück: ». Die Disziplinlosigkeit einer Familie, deren Angehörige sich schwer gegen mich vergangen haben« oder etwas dergleichen. Sie erinnerte sich nicht mehr genau der Worte, da sie in jenem Augenblick nicht sonderlich auf sie geachtet hatte. Erst der Zusammenhang dieses Satzes mit den Andeutungen Raymonds ließ sie sich fragen, ob es sich nicht um Anspielungen auf ein Ereignis handelte, von dem sie nichts wußte.
Sie war noch tief in ihren Überlegungen, als ein Diener eintrat und meldete, daß der Baron de Sancé de Monteloup sie zu sprechen wünsche.
Der Vater Angéliques, der Baron de Sancé, war im vergangenen Jahr gestorben, gegen Ende des Winters, der ihrer Abreise nach Marseilles vorausgegangen war. Sie richtete sich deshalb bei dieser Ankündigung auf ihrem Ruhebett auf, da sie ihren Ohren nicht traute. Die Gestalt in braunem Rock und derben, lehmigen Schuhen, die die Stufen der Freitreppe erstieg, erinnerte sie an ihren Vater. Sie verfolgte ihr Nahen durch die Galerie und erkannte das verschwiegene, trotzige Gesicht der Sancé-Jungen. Einer ihrer Brüder? Gontran? . Nein, Denis.
»Du bist es, Denis?«
»Guten Tag«, sagte er.
Er war Offizier in einer Garnison in der Umgebung von Paris gewesen. Nun fand sie ihn unversehens als Krautjunker aus der Provinz wieder, mit dem schwerfälligen Schritt und der sorgenvollen Miene des Barons Armand. Verlegen drehte er einen Zipfel seines Rocks zwischen den Fingern.
»Da bin ich. Monsieur de Marillac, der Gouverneur der Provinz, hat mich gebeten, dir einen Besuch abzustatten. Deshalb bin ich gekommen.«
»Offenbar handelt man nur noch auf Anweisungen anderer in dieser Familie. Wie charmant!«
»Zum Teufel! Die Situation ist schwierig genug.«
»Was ist geschehen?«
»Das fragst du, der die ganze Polizei des Königreichs auf den Fersen gewesen ist und die man wie eine Verbrecherin unter Bewachung zunickgebracht hat? Die ganze Gegend spricht davon!«
»Ich weiß. Aber was geschieht sonst?«
Denis ließ sich bedrückt nieder.
»Stimmt, du weißt es nicht, und ich werde es dir erzählen, denn dazu hat mich Monsieur de Marillac hergeschickt, weil es dich dazu veranlassen könnte, heilsame Überlegungen anzustellen. Das sind seine Worte.«
»Was gibt es also?«
»Sei nicht ungeduldig. Du wirst es früh genug erfahren. Es ist ziemlich scheußlich. Die Schande lastet auf unserer Familie. Ah, Angélique, warum bist du abgereist?«
»Man hat es doch wohl nicht gewagt, sich an meine Familie zu halten, weil es mir gefallen hat, ohne Erlaubnis des Königs eine Reise anzutreten?«
»Nein, das ist es nicht. Aber wenn du da gewesen wärst ...! Die Geschichte hat sich ein paar Monate nach deiner Abreise zugetragen. Man wußte nicht genau, warum du eigentlich abgereist warst, man erfuhr nur, daß der König fürchterlicher Laune war. Ich nahm es nicht allzu ernst, weil ich mir sagte: >Angélique hat schon anderes überstanden. Wenn sie eine Dummheit gemacht hat, ist sie schön genug, um zu wissen, wie man die Angelegenheit wieder in Ordnung bringt.< Was mich am meisten ärgerte, ich gebe es zu, war, daß ich nicht wußte, wo ich dich finden konnte, um mir Geld von dir zu leihen. Ich hatte es mir gerade in den Kopf gesetzt, eine freie Charge im Garderegiment von Versailles zu kaufen. Ich hoffte auf Unterstützung durch deinen Einfluß und ... deine Silberlinge. Da die Sache schon hübsch vorangekommen war, ging ich zu Albert, von dem ich wußte, daß er am Hofe Monsieurs seinen Weg gemacht hatte. Es erwies sich als eine gute Idee. Er hatte die Taschen voller Gold. Er sagte mir, daß Monsieur einen Narren an ihm gefressen habe und ihn mit Wohltaten überhäufe: Schenkungen, Ämtern, ja er hatte sich sogar die Einkünfte unserer großen Abtei von Nieul verleihen lassen. Eine Idee, die dieser ehrgeizige Bursche seit langem im Kopf gehabt hatte. Auf diese Weise fühlte sich der schlaue Fuchs bis ans Ende seiner Tage der Armut enthoben. Er konnte mit Leichtigkeit mir armseligem Soldaten, der weder den Kopf noch sonstige Talente hatte, seinen Vorgesetzten zu gefallen, ein paar hundert Livres vorschießen. Er ließ sich auch nicht lange bitten, und ich konnte mir meine Charge kaufen. Ich war also in Versailles. Der Dienst war glanzvoller als in Melun, aber auch schwerer. Man war immer gleichsam auf Parade, um dem König angenehm zu sein. Dafür gab es zum Ausgleich die Festivitäten, den Hof, das Spiel. Allerdings auch andere, weniger angenehme Dinge, in die wir uns für meinen Geschmack allzuoft einmischen mußten: die Unterdrückung der Unruhe unter den Maurern und Handwerkern ... Man baute damals viel in Versailles, du erinnerst dich.«