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»Niemand soll ihn betreten, bevor ich ihn noch einmal inspiziert habe.«

Er packte eine der Deichselstangen des Schlittens, Angélique die andere. Die Holzkufen glitten leicht und fast lautlos über die kleinen, runden Kiesel aus Kanada, mit denen die Straßen und Gassen der Stadt gepflastert waren. Dieses besondere Pflaster verdankte man einem sparsamen Bürgermeister, der auf solche Weise die Kieselladungen aus Saint-Laurent in Neufrankreich nutzte, die man einstmals den ohne Fracht zurückreisenden Schiffen als Ballast mitzugeben pflegte. Seitdem war man genötigt, Schlitten zu verwenden. Karren mit eisenbeschlagenen Rädern hätten einen höllischen Lärm verursacht. Angélique und ihr Begleiter hasteten mit ihrer unheimlichen Last wie Schatten dahin.

»Das ist die günstigste Stunde«, raunte Maître Gabriel. »Die Lampen sind noch nicht angezündet, und in unserem Hugenottenviertel läßt man uns noch länger als die anderen warten, um uns zu bestrafen .

Die Bosheit hat manchmal auch ihre Vorteile.«

Die Passanten, deren Weg sie kreuzten, kamen gar nicht auf die Idee, sich zu fragen, was Maître Berne und seine Magd da transportierten, denn man sah nicht weiter als in einem rußigen Ofenloch.

Der Kaufmann schien zu wissen, wohin er wollte. Immer von neuem bog er in schmale Gäßchen ein, deren verwirrendes Kreuz und Quer sie offenbar um belebtere Straßen herumführen sollte.

Angélique schien es, als seinen sie schon seit Stunden unterwegs, und war erstaunt, sich plötzlich nicht allzu weit von ihrem Haus vor der Toreinfahrt eines ihrer Nachbarn, des Papierhändlers Jonas Mercelot, wiederzufinden.

Ihr Herr hob dreimal den bronzenen Türklopfer. Der Papierhändler öffnete ihnen selbst.

Er war ein weißhaariger, liebenswürdiger, sehr gebildeter Mann, dem einstmals so gut wie alle Papiermühlen des Angoumoi gehört hatten.

Durch die Steuern und das Verbot, Spezialhandwerker seines eigenen Glaubens weiterzubeschäftigen, ruiniert, waren ihm nur sein schönes Haus in La Rochelle und ein kleiner Handel mit Kunstpapier geblieben, dessen Herstellungsgeheimnisse nur ihm bekannt waren.

»Ich habe da etwas für deinen Brunnen«, sagte ihm Berne.

»Ausgezeichnet! Tretet ein, meine Freunde!«

Er half ihnen mit größter Bereitwilligkeit, den Schlitten in einen von frischem Apfelduft erfüllten Keller zu ziehen, und hielt, um den Weg zu beleuchten, die Laterne hoch.

Der Kaufmann lud die Pelze und Kornsäcke ab. Die mit Blut und Salz beschmierten Leichen wurden sichtbar, und der sanfte Papierhändler betrachtete sie, ohne Überraschung zu zeigen.

»Würde Dame Angélique uns den Gefallen erweisen, die Laterne zu halten? Ich werde dir beim Tragen helfen«, sagte er nur mit seiner üblichen Höflichkeit.

Berne schüttelte den Kopf.

»Nein, es ist besser, wenn du uns führst. Sie kennt den Weg nicht.«

»Richtig.«

Einmal mehr mußte Angélique zwei starre Beine aufnehmen, die ihr so schwer wie Stein schienen. Ihre Arme schmerzten sie. Hinter dem Papierhändler stiegen sie drei steinerne Stufen hinunter, die in ein mit Papierstapeln, Lumpenballen und Säurebehältern vollgestopftes Magazin führten. Im Hintergrund rückte Maître Mercelot nicht ohne Mühe eine altmodische Handpresse beiseite, die ein schmales, wurmstichiges Pförtchen verbarg. Der Schlüssel dazu war in einer Vertiefung der Mauer versteckt. Das Pförtchen öffnete sich auf eine glücklicherweise ziemlich kurze Wendeltreppe.

Sie standen nun in einem großen, unterirdischen Saal, dessen niedrige, gewölbte Decke von starken romanischen Pfeilern getragen wurde. In seiner Mitte befand sich ein Brunnen. Jonas Mercelot schob den mit einem Vorhängeschloß versehenen Deckel beiseite, und das brausende Geräusch von anschlagenden und wieder zurückflutenden Wogen drang aus dem Schacht herauf.

»Dieser Brunnen steht mit dem Meer in Verbindung«, erklärte Maître Berne Angélique. Er mußte die Stimme heben, um sich verständlich zu machen: »Was man hineinwirft, wird auf den Felsen zermalmt und von der Strömung fortgerissen.«

Wie aus seinem Gefängnis befreit, grollte und toste der Ozean in lang hinhaltendem Tumult, den das Echo zurückwarf.

In diesem an- und abschwellenden Getöse schienen die Bewegungen einem bösen Traum zu entstammen. Die Leichen, die man packte, die man über die Einfassung hob und in den Schlund der tosenden Finsternis warf, versanken, ohne daß ein Laut ihres Falls zu vernehmen gewesen wäre. Sie verschwanden wie aufgeschluckt, schienen sich spurlos aufzulösen.

Der schwere Deckel wurde wieder an seinen Platz gerückt, und der Lärm war nur noch gedämpft zu hören. Angélique stützte sich auf das Brunnengeländer und schloß die Augen. »Es ist nicht das erstemal«, hatte Maître Gabriel gesagt.

Dieses dumpfe Geräusch, das noch immer heraufdrang, war das heimliche La Rochelle, durchklungen von dem ihm verbündeten Meer und dem Gesang der Psalmen, die sich im 16. Jahrhundert aus seinen unterirdischen Kellern erhoben, in denen sich die ersten Anhänger der calvinistischen Sekte vereinigten.

Es war das Echo des gnadenlosen Kampfes, den sich in diesen Mauern zwei unversöhnliche Widersacher geliefert hatten und der an Tagen der Verfolgung mit derselben Bitterkeit, denselben von beiden Seiten beschönigten Verbrechen wiederauflebte.

Wie konnte man jemals dem Blut, der Furcht entrinnen?

Honorine lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Bauch, die Stirn gegen die kalten Fliesen gedrückt, wie ein kleines Tier, das ohne Hoffnung den Tod erwartet.

»Sie hat Euch den ganzen Tag gesucht«, erklärte Abigaël. »Sie schien uns ängstlicher als gewöhnlich. Sie spähte unter die Möbel. Sie verlangte, daß wir die Fenster und Türen öffneten. Sie rief Euch nicht, aber zuweilen stieß sie einen Schrei aus, der uns weh tat.«

»Wir boten ihr Näschereien an. Sie wollte sie nicht.«

»Ich habe ihr mein Holzpferd gegeben«, erklärte Laurier, »aber sie mochte nicht damit spielen.«

»Vielleicht ist sie krank?«

Mit sorgenvollen Mienen standen sie um das kleine Bündel herum, das ausgestreckt auf dem Boden lag. Ihre Betroffenheit wuchs noch, als sie den Zustand entdeckten, in dem sich Angélique ihnen darbot.

»Aber was ist Euch geschehen?« rief Tante Anna.

»Nichts Ernstliches.«

Sie hob ihre Tochter auf, drückte sie heftig an sich.

»Ich bin ja da, kleines Herz. Ich bin ja da.«

»Honorine hat gefühlt, daß ich mich in Gefahr befand«, dachte sie. »Deshalb war sie unruhig.«

Honorine war in der Gefahr geboren. Ihr Instinkt ließ sie das lautlose Nahen des riesigen, düsteren Tieres erkennen. Sie mußte es immer spüren, geduckt hinter den viereckigen Scheiben der Fenster.

An den Hals ihrer Mutter geklammert, forderte sie gebieterisch, daß man die Holzläden vorlegte, um die Nacht auszuschließen. Jedermann beeilte sich, ihrem Verlangen nachzukommen; erst dann fand sie sich bereit, ihre Umklammerung zu lösen und zu lächeln. Ihre Mutter war da, und aus den Spiegelungen der Scheiben war das schwarze, grausame Antlitz des Unheils verschwunden.

Man setzte sie auf ihren Stuhl und brachte ihr ihren Grießbrei. Angélique entfernte sich, um ihr Kleid zu wechseln, eine Schürze aus gestärkter Leinwand umzubinden und ihr in Unordnung geratenes Haar unter einer neuen Haube zu bergen.

Maître Gabriel plauderte halblaut mit Pastor Beau-caire und dessen Neffen, ebenfalls Pastor und Flüchtling aus den Cevennen. Er war eines Tages aufgetaucht, seinen kleinen, vierjährigen Sohn Nathanaël an der Hand führend.

Auch das Kind war an diesem Abend da, und die beiden Zwillinge der Familie Carrère vervollständigten die häusliche Runde, denn die Nachbarn hatten der Geburt des elften wegen die zehn Kinder des armen Advokaten unter sich aufgeteilt.

Entzückt, der Mittelpunkt eines so zahlreichen Hofes zu sein, wurde Honorine gesprächig.