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»Ich bin müde.«

»Dann werde ich dich eben tragen.«

Sie kniete nieder, und das Kind kletterte auf ihren Rücken.

Es tat ihr wohl, sich im Gehen gegen den Wind zu stemmen und dabei die Last dieses leichten Bündels zu spüren. Honorines zerzaustes, seidiges Haar streichelte ihr die Wangen. Sie hörte das Mädelchen lustig lachen. Sie liebte das von tausend Geräuschen - dem des Windes, der Brandung auf dem Geröll am Fuß der Klippe, der Vogelschreie, die sich aus den Binsen erhoben - erfüllte Schweigen der Heide. Angélique stellte fest - und sie war überzeugt, Honorine teile ihre Meinung -, daß sie beide nicht für die Stadt geschaffen waren. Außerhalb der Wälle fanden sie unversehens die Umgebung wieder, in der sie sich zu Hause fühlten: die Heide, den weiten Horizont und die Anziehungskraft dessen, was sich jenseits von ihm wie ein Versprechen verbarg. Dieses Land lag flach, ohne Wälder, nackt unter dem ungreifbaren Schleier eines grünlichen Nebels, der an diesem Tage die aus Dünen, Mooren und dürftigen Feldern bestehende Ebene ins Unendliche dehnte. Zur Rechten war in der Ferne eine Ansammlung elender Hütten zu sehen: der Weiler Saint-Maurice.

Auf der Seite des Meers erhob sich von Richelieus Deich noch immer der von Muscheln umkleidete Steinhaufen, flankiert von kreuzweise verbundenen Balkenstümpfen, die faulend in der Strömung versanken.

Angélique warf nur einen zerstreuten Blick hinüber. Vor ihr öffnete sich das Meer von Pertuis, die Enge zwischen den Inseln von Oléron und Ré, noch vom Land umfangen, doch schon durchtränkt von der Grenzenlosigkeiten des Ozeans.

Honorines kleine Arme klammerten sich fester um ihren Hals.

»Freust du dich?« fragte sie ihre Mutter mit der nachsichtigen Sanftmut, die verzogenen Kindern vorbehalten ist. »Ja, ich freue mich«, erwiderte Angélique.

Und es war wahr. Die Zeit der Befreiung war nahe. Aus dem Anblick dieser noch wilden, von den Menschen und ihren Leidenschaften unabhängigen Landschaft gewann sie die Sicherheit, daß das Meer sie nicht im Stich lassen würde. Eine neue Seite ihres Lebens würde aufgeschlagen werden.

Welche Beschwernisse sich auch auftürmen mochten, sie würde dieses Leben mit einem neuen Herzen bestehen, befreit von einem Druck, der ihr ganzes Dasein belastet hatte. Auf dieser alten Erde ließ sie nichts als ein kleines Grab am Rande des Forstes von Nieul nahe einem weißen, zerstörten Schloß zurück. Und als einzige Habe nahm sie ihre Tochter mit, das ihr ans Herz gewachsene Kind, ihre Freundin.

Nur noch einige Stunden, und sie würde in jene Zone der Ruhe eintreten, in der die vom Sturm erschöpften Vögel sich wie berauscht von sanften Winden dahintragen lassen.

Das Glück war nahe.

»Sing mir ein Lied, wenn du dich freust«, schloß Honorine.

Angélique lachte auf. Ihre Tochter würde immer die guten Gelegenheiten beim Schopf ergreifen.

Sie begann Florimonds Lieblingslied zu trällern, das Lied von der grünen Mühle. Es ging darin um eine grün umrankte Mühle, einen Teufel, der sie sich aneignen wollte, und den Eigentümer, der sich dagegen wehrte. Die Geschichte war lang.

Während sie sang, entfernte sich Angélique vom Rande der Klippen. Sie mußte nun ein Stück der Heide durchqueren, um wieder auf den Karrenweg zu stoßen, auf dem sie den kleinen Hafen La Palice erreichen würde, dessen erste Hütten schon in der Ferne sichtbar waren.

»Schau doch, dort drüben!« rief Honorine. »Ich sehe den Teufel von der grünen Mühle.«

Ihre Mutter wandte mechanisch den Kopf, um mit dem Blick der Richtung des ausgestreckten kleinen Fingers zu folgen, und was sie sah, verschlug ihr den Atem.

Fast genau an der Stelle, wo sie sich hätten befinden müssen, wenn sie nicht vom Uferweg abgewichen wären, tauchte eine Gestalt auf. Angélique war schon zu weit entfernt, um die Gesichtszüge der Erscheinung erkennen zu können. Was sie sah, war ein hagerer, hochgewachsener, düster gekleideter Mann, in einen weiten schwarzen Mantel gehüllt, in dem sich der Wind verfing.

Es war Mephisto!

Im selben Augenblick trieben dichtere Schwaden jenes den Ausblick verschleiernden Nebels vom Meer her über die Küste, und Angélique fand sich inmitten einer traumhaften Unwirklichkeit, in der allein der schwarze Flügel des weiten Mantels unheimlich le-bendig schien.

Es schien ihr, als habe sie aufgehört zu leben oder zumindest, als habe ihr Geist sie jäh verlassen, um sich in jenes Land zu begeben, in dem die Ungewissen Phantasievorstellungen Gestalt annehmen, wo der Traum greifbar wird, während sich die Konturen der Wirklichkeit verwischen.

So mußte es sein, wenn man wahnsinnig wurde.

So oft hatte sie an den scherzenden Wunsch des Sieur Rochat gedacht - »Ich wünschte, daß der Rescator vor La Rochelle Anker würfe!« -, und nun sah sie ihn vor sich. Sie lebte inmitten des in allen Einzelheiten von ihren Wunschvorstellungen geschaffenen Bildes.

Sie glaubte, den Verstand zu verlieren. Sie hatte Angst.

Dann glitt der feuchte Atem des Nebels vorüber. Die Farben des Meers nahmen von neuem ihren lebhaften Glanz an. Alles wurde wieder klar, scharf, deutlich umrissen, und selbst La Rochelle wurde in der Ferne sichtbar, weiß und gezackt wie eine Krone aus purem Silber. Der seltsame Mann hob den Arm. Er näherte seinen Augen ein lang ausgezogenes Fernrohr und beobachtete die Stadt. Er hatte jetzt menschliche Substanz bekommen, und wenn seine tintig-schwarze Gegenwart am lichtüberströmten Klippenrand auch nach wie vor beunruhigend blieb, wirkte sie doch weder gespenstisch noch diabolisch.

Fest auf seinen in Lederstiefeln steckenden Beinen stehend, nahm er sich zur Beobachtung Zeit. Dann ließ er das Fernrohr sinken und schien anderen, noch unsichtbaren Personen unten auf dem Strand Zeichen zu geben.

Angélique fand aus ihrer Benommenheit zum Bewußtsein der Situation zurück. Er würde sich umdrehen und die mitten in ihrer Bewegung erstarrte Frau bemerken. Warum war sie plötzlich so überzeugt, daß dieser Mann und diejenigen, die ihn begleiteten, keinen Wert darauf legten, beobachtet oder gar erkannt zu werden?

Sie sah sich um und lief eilig zu einem Tamariskengebüsch, hinter dem sie sich mit ihrer Tochter versteckte. In der sandigen Senkung ausgestreckt, vermochte sie nur wenig von dem zu sehen, was sich weiter vorn zutrug. Zwei Männer waren zu dem ersten gestoßen. Sie sprachen miteinander.

Dann verschwanden sie.

Sie hätte glauben können, geträumt zu haben, wenn nicht die gedämpften Laute menschlicher Stimmen und unregelmäßige, dumpfe Schläge an ihr Ohr gedrungen wären, die vom Hammer eines Zimmermanns hätten herrühren können.

Ein Windstoß trug ihr den scharfen, unverwechselbaren Geruch geschmolzenen Pechs zu. Über den Rand der Klippen, die an dieser Stelle eine ins Land einschneidende Bucht bildeten, erhob sich ein wenig Rauch.

»Rühr dich nicht«, sagte Angélique zu Honorine.

Doch Honorine dachte gar nicht daran, sich zu rühren. Sich in eine Bodensenke zu ducken wie ein auf der Lauer liegendes junges Kaninchen, entsprach ihrer ungezähmten Natur und schien sie an die frühen Tage ihrer Kindheit zu erinnern.

Angélique schlich sich kriechend durch das Gras bis zum Rand.

Mitten in der Bucht entdeckte sie einen ankernden Dreimaster, der weder Wimpel noch Flagge trug. Ziemlich tief im Wasser liegend und verhältnismäßig groß, konnte er ebensogut ein Holländer wie ein Engländer, aber gewiß kein Franzose sein, und in keinem Fall gehörte er zur Flotte der Rochelleser Kabeljaufischer. Deren Fahrzeuge überschritten nie hundertachtzig Tonnen, und das Fahrzeug dort unten mußte wenigstens zweihundertfünfzig messen.

Was hatte ein Handelsfahrzeug in dieser eine Meile von La Rochelle entfernten und zum Ankern kaum geeigneten Bucht zu schaffen, denn es war bekannt, daß die steilen, aber niedrigen Klippen wenig Schutz boten und daß der Grund schlammig und ziemlich flach war. Nur Fischerbarken flüchteten sich gelegentlich hierher.