Er hatte recht. Unser Renngeld war praktisch verdient, sobald wir auf der Waage gesessen hatten und das Gewicht für korrekt befunden war; es wurde ausbezahlt, ob wir nun ritten oder nicht.
»Dann sollten wir wenigstens die Hälfte für seine Witwe in eine gemeinsame Kasse tun«, meinte Peter Cloony, ein kleiner, stiller, junger Mann mit einer Tendenz zu überschwenglichen Gefühlen, der bei jeder Gelegenheit ungeheures Mitleid mit anderen und mit sich selbst empfand, es allerdings ebenso schnell wieder loswurde.
»Ich denke ja gar nicht daran«, sagte Tick-Tock, der für Cloony nichts übrig hatte. »Zehn Piepen sind für mich zehn Piepen, und Mrs. Mathews schwimmt ja in Geld. Sie bildet sich noch allerhand drauf ein. Da kann einer schon froh sein, wenn ich ihr guten Tag sage.«
»Irgendwie muß man aber seinen Respekt bekunden«, sagte Peter eigensinnig, sah uns alle mit feuchten Augen an, ohne aber Tick-Tocks grimmigen Blick zu erwidern.
Mein Mitgefühl hatte Tick-Tock. Ich brauchte das Geld auch - außerdem hatte mich Mrs. Mathews zusammen mit allen anderen Durchschnittsjockeis immer recht kühl behandelt. Fünf Pfund zur Erinnerung an Art würden sie kaum auftauen lassen.
Blaß, blond, blauäugig, und kalt wie ein Eisblock, dachte ich.
»Mrs. Mathews braucht unser Geld nicht«, sagte ich. »Erinnert ihr euch noch, wie sie sich im letzten Winter einen Nerzmantel gekauft und ihn dazu benützt hat, alle abfahren zu lassen, die da nicht mitkönnen? Sie kennt ja kaum unsere Namen. Wir kaufen Art einfach einen Kranz und tun etwas Nützliches in seinem Namen, etwas, womit er einverstanden gewesen wäre; beispielsweise könnten wir hier Warmwasserduschen installieren lassen.«
Tick-Tocks kantiges, junges Gesicht strahlte. Peter Cloony sah mich traurig und mißbilligend an, aber die anderen nickten zustimmend.
Grant Oldfield sagte wütend: »Wahrscheinlich hat er sich erschossen, weil ihn das Weibsbild betrogen hat.«
Es wurde still. Vor einem Jahr, dachte ich, vor einem Jahr hätten wir noch gelacht. Aber vor einem Jahr hätte Grant Oldfield dasselbe witzig und vielleicht etwas ordinärer ausgedrückt, nicht so bösartig und giftig.
Ich wußte ebensogut wie die anderen, daß ihm die Einzelheiten von Arts Ehe unbekannt und auch gleichgültig waren, aber in den letzten Monaten schien Grant immer stärker von einer inneren Wut zerfressen zu werden, so daß er selbst die alltäglichste Bemerkung damit anreicherte. Das lag unserer Meinung nach daran, daß er auf dem absteigenden Ast war, ohne jemals ganz nach oben gekommen zu sein. Er war von Haus aus ehrgeizig und rücksichtslos gewesen, was sich auch in seinem Reitstil zeigte. Aber im entscheidenden Augenblick, als er mit einer Reihe von Erfolgen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen und regelmäßig für James Axminster zu reiten begonnen hatte, einen der besten Trainer, war etwas passiert, das alles zunichte machte. Er hatte den Job bei Axminster verloren, und die anderen Trainer setzten ihn immer seltener ein. Das Rennen, zu dem wir nicht hatten antreten müssen, wäre an diesem Tag sein einziger Einsatz gewesen.
Grant war ein brünetter, stämmiger Mann von dreißig Jahren mit hervorstehenden Backenknochen und einer breiten, verformten Nase. Ich kam weit häufiger in engen Kontakt mit ihm, als mir lieb war, weil mein Platz im Umkleideraum der meisten Rennbahnen neben dem seinen lag; wir hatten beide denselben Burschen. Er borgte sich meine Sachen aus, ohne vorher zu fragen oder sich nachher zu bedanken, und wenn er etwas zerbrochen hatte, leugnete er grundsätzlich, es benützt zu haben. Zu Beginn unserer Bekanntschaft hatte mich sein verschmitzter Humor amüsiert, aber jetzt, zwei Jahre später, hatte ich mehr als genug von seinen Launen, seiner Grobheit und seinem Jähzorn.
In den sechs Wochen, seit die neue Saison angefangen hatte, war er mir ein paarmal aufgefallen, als er dastand, den Kopf vorgereckt, und sich verständnislos umsah, wie ein vom Matador gefoppter Stier. Ein Stier, erschöpft vom Kampf gegen ein Tuch, ein genarrter, zermürbter Stier, dessen großartige Kraft sich an einem Ding vergeudet hatte, das er nicht mit seinen Hörnern festzunageln vermochte.
Bei solchen Gelegenheiten tat mir Grant durchaus leid, aber abgesehen davon, ging ich ihm aus dem Weg, so gut ich konnte.
Peter Cloony, der ihn, wie gewohnt, überhaupt nicht beachtete, deutete auf den Haken, an dem Arts Sachen hingen und sagte: »Was meint ihr, was wir damit anfangen sollen?«
Wir sahen die Sachen an, den gutgeschnittenen Tweedanzug, säuberlich über einen Bügel gehängt, den kleinen Handkoffer, der sein Hemd und die Unterwäsche enthielt. Sein beinahe fanatischer Ordnungssinn war uns so vertraut, daß keiner davon sprach, aber jetzt, seit er tot war, fiel mir das besonders auf. Alle anderen hängten ihre Jak-ken einfach an den Haken und stopften ihre Unterwäsche in die Hosen hinein. Nur Art hatte auf einem Bügel bestanden und seinem Burschen aufgetragen, stets einen mitzubringen.
Bevor wir über einen ordinären Vorschlag Grants hinausgekommen waren, zwängte sich ein Funktionär durch die herumstehenden Jockeis, sah mich und rief: »Finn, Sie sollen zur Rennleitung kommen.«
»Jetzt?« sagte ich in Hemd und Unterhosen.
»Sofort.« Er grinste.
»Na schön.« Ich zog mich hastig an, kämmte mich, marschierte durch den Wiegeraum und klopfte an die Tür des Rennleitungsbüros. Jemand rief: »Herein«, und ich drückte auf die Klinke.
Um einen großen länglichen Tisch saßen die drei Herren der Rennleitung, der Rennbahnmanager und Corin Kellar.
»Kommen Sie ‘rein und machen Sie die Tür zu«, sagte Lord Tirrold. Ich tat es.
»Ich weiß, daß Sie in der Nähe von Mathews waren«, fuhr er fort, »als er ... äh ... sich erschoß. Haben Sie es beobachten können, ich meine, haben Sie gesehen, daß er die Pistole in die Hand genommen und angesetzt hat, oder haben Sie erst hinübergeschaut, als Sie den Schuß hörten?«
»Ich habe gesehen, wie er die Pistole herausholte und abdrückte, Sir«, sagte ich.
»Gut. In diesem Fall wird die Polizei vielleicht eine Aussage von Ihnen haben wollen; verlassen Sie das Haus bitte nicht, bis jemand mit Ihnen gesprochen hat. Wir warten noch auf den Inspektor, er ist im Sanitätsraum.«
Er nickte mir zu, aber als ich die Hand auf die Klinke legte, sagte er: »Finn ... wissen Sie einen Grund, warum Mathews sich das Leben genommen hat?«
Ich zögerte ein bißchen zu lange, bevor ich mich umdrehte, so daß ein einfaches >nein< wenig überzeugend geklungen hätte. Ich sah Corin Kellar an, der eifrig seine Fingernägel betrachtete.
»Vielleicht weiß Mr. Kellar da eher Bescheid«, sagte ich zurückhaltend.
Die anderen wechselten Blicke. Mr. Ballerton, der immer noch recht blaß war, hob abwehrend die Hand und sagte: »Sie verlangen doch wohl nicht, daß wir glauben sollen, Mathews hätte sich nur deshalb umgebracht, weil Kellar mit ihm unzufrieden war?«
Er sah seine Kollegen an. »Im Ernst«, sagte er entschieden, »wenn die Jockeis so hochnäsig werden, daß sie keine berechtigte Kritik mehr vertragen, wird es Zeit, daß sie sich nach einem anderen Beruf umsehen. Aber anzudeuten, daß Mathews sich wegen ein paar harter Ausdrücke umgebracht hat, ist unverantwortlicher Leichtsinn.«
Dabei fiel mir ein, daß Ballerton selbst ein Pferd besaß, das von Corin Kellar trainiert wurde. >Unzufrieden<, der farblose Ausdruck, den er benützt hatte, um die lange Reihe von scharfen Auseinandersetzungen zwischen Art und dem Trainer nach dem Rennen zu charakterisieren, deutete doch auf einen bewußten Versuch hin, Öl auf die Wogen zu gießen. Du weißt ganz genau, warum Art sich umgebracht hat, dachte ich. Du hast selbst dazu beigetragen, und willst es nur nicht zugeben.
Ich sah wieder zu Lord Tirrold hinüber und entdeckte, daß er mich prüfend anschaute. »Das wäre alles, Finn«, sagte er.
»Jawohl, Sir«, sagte ich.
Ich ging hinaus, und diesmal riefen sie mich nicht zurück. Bevor ich jedoch den Wiegeraum durchquert hatte, hörte ich die Tür wieder zuklappen, dann sagte Corins Stimme hinter mir: »Rob.«