Ich drehte mich um und wartete auf ihn.
»Vielen Dank«, sagte er sarkastisch. »Das haben Sie ja wirklich fein gemacht.«
»Sie hatten ja selber schon davon gesprochen«, meinte ich.
»Ja, zum Glück.«
Er wirkte immer noch schockiert; sein hageres Gesicht war von tiefen Sorgenfalten durchzogen. Er war ein außerordentlich cleverer Trainer, aber ein nervöser, unzuverlässiger Mann, der einem heute lebenslange Freundschaft anbot, um dich am nächsten Tag keines Blickes zu würdigen. Im Moment schien er auch ein paar beruhigende Worte hören zu wollen.
»Sie und die anderen Jockeis glauben doch wohl nicht, daß Art sich umgebracht hat, weil ... äh ... ich mir vorgenommen hatte, ihn nicht mehr so viel zu beschäftigen?« sagte er. »Er muß einen anderen Grund gehabt haben.«
»Heute sollte er jedenfalls das letztemal für Sie reiten, oder nicht?« meinte ich.
Er zögerte zuerst, dann nickte er, überrascht von der Tatsache, daß ich wußte, was nicht publik gemacht worden war. Ich erzählte ihm nicht, daß ich am Abend zuvor Art auf dem Parkplatz getroffen hatte, und daß Art, verzweifelt und zutiefst von der Ungerechtigkeit der Welt im allgemeinen überzeugt, seine Zurückhaltung soweit aufgegeben hatte, um mir zu sagen, daß ihn Kellar nicht mehr beschäftigen wollte.
Ich sagte nur: »Er hat sich umgebracht, weil Sie ihn gefeuert haben, und er hat es vor Ihnen getan, damit Sie sich keine Gewissensbisse ersparen. So steht’s und nicht anders, wenn Sie meine Meinung hören wollen.«
»Aber schließlich bringt sich doch keiner um, nur weil er seine Stellung verloren hat«, sagte er aufgebracht.
»Nicht, wenn er normal ist, nein«, gab ich zu.
»Jeder Jockei weiß, daß er einmal aufhören muß, und Art war einfach zu alt ... er muß übergeschnappt sein.«
»Ja, kann schon sein«, sagte ich.
Ich ließ ihn stehen. Sollte er sich doch allein die Mühe machen, zu der Überzeugung zu gelangen, daß er für Arts Tod in keiner Weise verantwortlich war.
Die Diskussion im Umkleideraum über die Frage, was man mit Arts Sachen anfangen sollte, hatte ein Ende gefunden, als sein Bursche sich darum kümmerte, und Grant Oldfield war zu meiner Erleichterung schon weggegangen. Die meisten anderen Jockeis waren ebenfalls schon verschwunden, und ihre Burschen waren gerade dabei, Ordnung in das hinterlassene Chaos zu bringen, schmutzige weiße Wäsche in Wäschesäcke zu stopfen, Helme, Stiefel, Peitschen und andere Ausrüstungsgegenstände in große Deckelkörbe. Es war ein trockener, sonniger Tag gewesen, und ausnahmsweise brauchte nichts von Schlamm gereinigt zu werden.
Während ich zusah, wie sie flink und gewandt die Sachen in die Körbe warfen, das schmutzige Zeug zum Mitnehmen herrichteten, um es zu säubern und dann gewaschen und poliert am nächsten Tag zurückzubringen, dachte ich, daß sie vermutlich das viele Geld wert waren, das wir ihnen dafür bezahlen mußten. Mir wäre es jedenfalls kein Vergnügen gewesen, nach einem ganzen Tag auf der Rennbahn mich zu Hause mit den Körben und Säcken abgeben zu müssen. Pfui Teufel.
Ich hatte Art oft dabei beobachtet, wenn er seinen Burschen auszahlte und ein ganzes Bündel Geldscheine durchzählte. Auf dem Höhepunkt der Saison waren es pro Woche über zwanzig Pfund. Mein eigener Bursche, der junge Mike - er war übrigens Mitte Vierzig - nahm meinen Helm von der Sitzbank und lächelte mir im Vorbeigehen zu. Er verdiente mehr als die meisten von den Dutzend Jockeis, um die er sich kümmerte, und ganz entschieden mehr als ich. Aber trotzdem ... pfui Teufel!
Tick-Tock, der den neuesten Schlager vor sich hinpfiff, saß auf der Bank und zog auffallende gelbe Socken an. Dann schlüpfte er in glatte, spitze Schuhe, die bis zum Knöchel reichten. Er schüttelte die schmalen, aufschlaglosen Hosenbeine herunter, spürte, daß ich ihn beobachtete, und grinste mich an.
»Schau dir das Idol der Schneiderinnung nur an«, sagte er.
»Mein Vater gehörte früher zu den zwölf bestgekleideten Männern«, erklärte ich kühl.
»Mein Großvater hat sich seine Regenmäntel mit Vivuna-Fell füttern lassen.«
»Meine Mutter«, sagte ich, mir das Gehirn zermarternd, »trägt ein Hemd von Dior.«
»Das trägt meine in der Küche«, sagte er wohlüberlegt.
Nach dieser kindischen Wechselrede starrten wir einander gutgelaunt an. Fünf Minuten mit Tick-Tock belebten wie Rumpunsch im Schneesturm, und von seiner bedenkenlosen Lebensfreude färbte immer etwas auf seine Mitmenschen ab. Mochte Art elend zugrunde gegangen, mochte Grant Oldfield ein Menschenfeind sein, in der Rennwelt konnte nicht alles im argen liegen, dachte ich, solange Tick-Tock Ingersoll den Mut nicht verlor.
Er winkte mir zu, setzte seinen Tirolerhut schräg in die Stirn, sagte: »Bis morgen«, und verschwand.
Aber trotzdem war in der Rennwelt nicht alles in Ordnung. Ganz und gar nicht. Ich wußte nicht, woran es lag, ich sah nur die Symptome, und, weil ich erst zwei Jahre dabei war, vielleicht um so deutlicher. Zwischen Trainern und Jockeis schien konstante Verärgerung zu herrschen, immer wieder gab es Zusammenstöße, und eine unterschwellige Strömung von Mißtrauen und Groll war nicht zu übersehen.
Dahinter steckt mehr, dachte ich, als der übliche Dschungel unter der Oberfläche aller auf starkem Konkurrenzdruck beruhenden Geschäftszweige, mehr als das Gegenstück zu den Machtkämpfen in der Finanzwelt, aber Tick-Tock, vor dem allein ich meine Bedenken erwähnt hatte, war mit einer wegwerfenden Handbewegung darüber hinweggegangen.
»Du mußt auf der falschen Wellenlänge sein, Freundchen«, hatte er gesagt. »Schau dich doch um. Die Leute lächeln alle. Sie lächeln. Ich kann mich nicht beklagen.«
Die letzten Stücke verschwanden in den Körben, ein paar Deckel waren schon zugeklappt. Ich trank eine zweite Tasse ungezuckerten, lauwarmen Tee und starrte den englischen Kuchen an. Wie immer kostete es mich allerhand Überwindung, nicht ein Stück zu essen. Der ständige Hunger war das einzige, was mir am Rennsport nicht gefiel, und der September machte mir immer besonders zu schaffen, weil da noch der Rest vom Sommerfett heruntergehungert werden mußte. Ich seufzte, sah woanders hin und suchte mich damit zu beruhigen, daß in vier Wochen mein Appetit auf das Winterniveau abgesunken sein würde.
Mike, der mit einem Korb zur Tür hinausgewankt war, rief: »Rob, da will Sie einer von der Polizei sprechen.«
Ich stellte die Tasse ab und ging in den Wiegeraum hinaus. Ein älterer, unauffälliger Polizist mit einer zusammengedrückten Mütze erwartete mich mit dem Notizbuch in der Hand.
»Robert Finn?« fragte er.
»Ja.«
»Wie ich von Lord Tirrold gehört habe, haben Sie gesehen, daß Art Mathews die Pistole an die Schläfe setzte und abdrückte?«
»Ja.«
Er machte eine Notiz, dann sagte er: »Es handelt sich um einen ganz eindeutigen Fall von Selbstmord. Abgesehen vom Arzt braucht bei der gerichtlichen Untersuchung nur ein Zeuge aufzutreten, und das wird vermutlich Mr. Kellar sein. Ich nehme nicht an, daß wir Sie noch einmal belästigen müssen.« Er lächelte kurz, klappte das Notizbuch zu und steckte es in die Tasche.
»Das ist alles?« fragte ich verblüfft.
»Ja, das ist alles. Wenn sich jemand so vor aller Öffentlichkeit umbringt, scheiden Unfall oder Mord aus. Der Untersuchungsrichter braucht sich dann nur noch den Wortlaut der Feststellung des Tatbestandes zu überlegen.«
»Unzurechnungsfähig und so?« meinte ich.
»Ja«, sagte er. »Vielen Dank, daß Sie gewartet haben, obwohl das der Vorschlag der Rennleitung war, nicht der meine. Guten Tag.«
Er nickte mir zu, drehte sich um und ging zum Büro der Rennleitung.
Ich holte meinen Hut und das Fernglas und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Der Zug wartete schon. Er war voll, und ich fand nur noch in einem Abteil Platz, wo ein paar Buchmacher auf einem Koffer Karten spielten. Sie luden mich ein mitzumachen, und zwischen Luton und St. Paneras belohnte ich ihre Freundlichkeit damit, daß ich ihnen die Kosten der Fahrt abgewann.