Er hatte mit seinen anderen Pferden so viel zu tun, daß ich während der ersten Nachmittagsstunden kaum ein paar Worte mit ihm wechselte, und als ich vor meinem Rennen in den Paradezirkel hinausging, starrte er vor sich hin ins Leere.
»Maurice Kemp-Lore ist hier«, sagte er abrupt.
»Ja, ich weiß. Ich hab’ ihn gesehen.«
»Er hat schon ein paar Pferden Zucker gegeben.«
»Was?« rief ich.
»Ich habe mich schon bei einigen Leuten erkundigt ... Maurice hat in den letzten Wochen viel Pferden Zucker gegeben, nicht nur denen, die Sie geritten haben.«
»Oh«, sagte ich leise. Raffiniert bis dorthinaus, hatte Tick-Tock gesagt.
»Keines von den Pferden, die Sie geritten haben, ist zum Doping-Test herangezogen worden«, bemerkte James, »aber ein paar von den anderen, denen er Zucker gegeben hat. In allen Fällen war das Resultat negativ.«
»Präparate hat er nur meinen Pferden gegeben. Das mit den übrigen war Tarnung«, meinte ich. Es klang unglaubwürdig, aber ich war meiner Sache sicher.
James schüttelte den Kopf.
»Haben Sie -«, begann ich ohne Hoffnung. »Hat er ... Kemp-Lore . versucht, Turniptop Zucker zu geben?«
James preßte die Lippen zusammen und starrte vor sich hin. Ich hielt buchstäblich den Atem an.
»Er war in der Sattelbox«, sagte er widerwillig. »Er hat das Pferd bewundert.«
Turniptop stolzierte vorbei, strahlend vor Gesundheit, aber bevor James noch etwas sagen konnte, sprach ihn ein Mitglied der Rennleitung an, und ich hatte keine Gelegenheit, noch etwas über den Zucker in Erfahrung zu bringen, bevor ich aufsteigen und zum Start reiten mußte.
Ich wußte schon am zweiten Hindernis, daß Turniptop nicht gedopt war, ob ihm Kemp-Lore nun Zucker gegeben hatte oder nicht. Die bleierne Schwere, die ich bei meinen letzten achtundzwanzig Pferden gespürt und auf meine eigene Untüchtigkeit zurückgeführt hatte, war wie weggeblasen.
Turniptop setzte an, sprang und warf sich über die Hindernisse, zog an wie ein Schnellzug und versuchte, mit mir durchzugehen. Ich hätte am liebsten vor Erleichterung gebrüllt. Er war ein ungenauer Springer, mit mehr Begeisterung als Urteilsfähigkeit, was ihn bei den Hürden noch nie in Schwierigkeiten gebracht hatte, aber jetzt, beim ersten Hindernisrennen, wollte er die hohen Hecken mit derselben Verve angehen. Das hatte natürlich keinen Sinn; zwischen den leichten, mit einem einzigen Tritt umzuwerfenden Hürden und den ein Meter breiten Hecken ist ein Riesenunterschied, vor allem, wenn ein Graben dahinter liegt. Aber Turniptop ließ sich nicht bremsen, er wollte alles wagen.
So, wie die Dinge standen, und weil James überzeugt werden mußte, entsprach meine Stimmung genau Turnip-tops Ungestüm. Wir steckten einander buchstäblich an. Wir gingen unmögliche Risiken ein und schafften es.
Ich trieb ihn ständig am Geländer entlang, zwängte ihn durch schmale Öffnungen und schenkte ihm nichts. Wenn er ein Hindernis richtig anging, gewann er Längen, traf er es verkehrt, dann würgte er sich hinüber und kam irgendwie auf die Beine. Es war eher eine Berg- und Talfahrt als das vernünftige, gut eingeteilte Rennen, das James gern gesehen hätte, lehrte Turniptop aber weit mehr, als wären wir vorsichtig auf der Außenbahn geritten.
Beim vorletzten Hindernis befürchtete ich schon, daß wir gewinnen könnten. Ich befürchtete es, weil ich wußte, daß James das Pferd verkaufen wollte; wenn es schon ein Neulingsrennen gewonnen hatte, war es nicht mehr so viel wert wie vorher. Scheinbar ein Paradox, aber Turniptop, noch grün und unerfahren, zeigte gute Anlagen. Ein voreiliger Sieg, und schon durfte er an einer Reihe guter Neulingsrennen in der kommenden Saison nicht mehr teilnehmen.
Ich wußte, daß es viel besser war, auf dem zweiten Platz zu landen. Zu zeigen, was er leisten konnte, ohne zu gewinnen, mußte seinen Wert beträchtlich vermehren. Wir waren aber zu scharf herangegangen, und am vorletzten Hindernis schien das Unglück meines Sieges kaum mehr zu vermeiden. Wir hatten nur ein schon etwas müdes Pferd neben uns, und ich konnte keine Verfolger hinter mir hören.
Turniptop erwies sich als unbezahlbar. Trotz meines Drängens, noch einen Zahn zuzulegen, startete er zu früh und landete mit der Hinterhand in der Hecke. Seine Vorderhand knickte unter der Belastung ein, und er sank auf die Knie, während ich mit dem Kinn auf seinem rechten Ohr lag und die Arme um seinen Hals schlingen mußte. Aber selbst jetzt rettete ihn seine unglaubliche Balance, er raffte sich mit einer gewaltigen Bewegung auf, schleuderte mich in den Sattel zurück, warf den Kopf hoch und raste auf das Ziel zu. Das Pferd, das neben uns gewesen war, hatte inzwischen einen sicheren Vorsprung erlangt, und zwei weitere, die hinter uns gewesen waren, hatten sich vorbeigedrängt, so daß wir das letzte Hindernis in vierter Position erreichten.
Ich hatte bei dem Halbsturz die Steigbügel verloren und konnte sie nicht mehr rechtzeitig finden, so daß wir über das Hindernis mit baumelnden Bügeln setzten. Ich nahm Turniptop auf, trieb ihn an, und er zog an zwei Pferden vorbei und ging als zweiter durchs Ziel.
James erwartete mich auf dem Sattelplatz mit undurchdringlichem Gesicht. Mit ebenso ausdrucksloser Miene stieg ich ab.
»Reiten Sie um Himmels willen nie mehr ein solches Rennen für mich«, sagte er.
»Nein«, stimmte ich zu. Ich löste die Gurte, nahm den Sattel unter den Arm und sah ihm endlich in die Augen.
Sie glitzerten. Er sagte: »Sie haben den Beweis geliefert. Aber dabei hätte mein Pferd zugrunde gehen können.«
Ich schwieg. »Und Sie auch«, fügte er hinzu, gleichsam andeutend, daß das weniger wichtig war.
Ich schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Ausgeschlossen.«
»Hm.« Er sah mich durchdringend an. »Kommen Sie heute abend zu mir. Wir können hier nicht ... über dieses Thema reden. Es sind zu viele Leute da.«
Wie um seine Behauptung zu unterstreichen, beugte sich der Besitzer des Pferdes über das Geländer, um Turniptop zu bewundern, und ich mußte zum Wiegen gehen, ohne genau zu wissen, was vor dem Rennen auf dem Sattelplatz geschehen war.
Tick-Tock stand im Umkleideraum an meinem Platz, einen Fuß auf der Bank, den Tirolerhut ins Genick geschoben.
»Bevor du noch einmal so reitest, könntest du mir wenigstens testamentarisch deine Hälfte des Wagens vermachen«, sagte er.
»Dann brauch’ ich mich nicht mit den Gerichten herumzustreiten.«
»Ach, halt den Mund«, schnauzte ich und zog mich aus.
»Da werden ein paar Leutchen allerhand zurücknehmen müssen«, sagte Tick-Tock laut. Er begleitete mich und sah mir beim Waschen zu. »Du weißt hoffentlich, daß dir bei dem Rennen ein paar Millionen Hausfrauen, Invaliden, Kinder und Passanten zugesehen haben, die vor den Radiogeschäften auf der Straße stehen?«
»Was?« sagte ich.
»Im Ernst. Hast du das nicht gewußt? Die letzten drei Rennen sind im Fernsehen übertragen worden. Von Maurices Gesellschaft. Ich frage mich nur«, sagte er ernst, »was er tun wird, wenn er dahinterkommt, daß du das mit dem Zucker weißt.«
»Vielleicht hat er keine Ahnung«, meinte ich, während ich mich abrieb. »Vielleicht hält er es für einen Zufall. Ich habe von James noch nicht erfahren, was vor dem Rennen passiert ist.«
»Jedenfalls brauchst du von ihm nichts mehr zu befürchten«, meinte Tick-Tock zuversichtlich. »Nach allem, was heute passiert ist, kann er nichts mehr riskieren.«
Ich gab ihm recht. Das beweist nur, wie wenig wir beide von Fanatismus verstanden.
James erwartete mich im Büro an seinem Schreibtisch. Das Feuer flackerte hell, und die Flammen spiegelten sich auf den Gläsern neben der Whiskyflasche.
Er hörte zu schreiben auf, als ich hereinkam, stand auf, füllte unsere Gläser und blieb vor mir stehen, als ich mich vor den Kamin setzte. Sein Gesicht hatte Sorgenfalten.
»Ich möchte mich entschuldigen«, begann er abrupt.