Er ließ mein Haar los, verließ die Kammer, und ich hörte ihn durch den Hof gehen. Seine Schritte verklangen, und nach einer Weile wurde die Tür des Mini-Coopers zugeschlagen. Der Motor sprang an, und schon bald konnte ich ihn nicht mehr hören.
Es war gar nicht lustig, tropfnaß in einer kalten Nacht gefesselt hier stehen zu müssen. Ich wußte, daß er frühe-stens in ein paar Stunden zurück sein konnte, weil Freitag war. Von acht bis mindestens halb zehn war er mit seiner Sendung beschäftigt, und ich fragte mich, welche Auswirkungen dieses Abenteuer auf sein Auftreten haben würde.
Eines stand fest, ich konnte nicht einfach geduldig stehenbleiben und warten, bis ich befreit wurde. Das Wichtigste war zunächst, das Heftpflaster abzulösen. Ich glaubte, daß sich das leicht machen lassen müsse, weil es naß war, aber es klebte ganz fest. Nachdem ich lange Zeit meinen Mund am Arm gerieben hatte, gelang es mir nur, eine Ecke aufzurollen. Das verschaffte mir zwar etwas mehr Luft, aber um Hilfe schreien konnte ich nicht.
Die Kälte erwies sich als ernstes Problem. Meine Nässe war schrecklich, die Hose klebte klamm an meinen Beinen, die Schuhe waren voll Wasser, und die Fetzen meines Hemds schienen an Armen und Brust wie Mörtel zu haften. Meine Finger waren schon völlig gefühllos, und auch die Füße spürte ich kaum mehr. Er hatte die Tür absichtlich offengelassen, da gab es keinen Zweifel, und obwohl der beißend kalte Wind nicht direkt hereinwehte, herrschte doch ein starker Luftzug. Ich zitterte am ganzen Körper.
Zaumzeughaken. Ich stellte mir ihre Form vor. Ein Metallstab mit drei aufwärtsgebogenen Haken. Oben am Ende ein Ring und am Ring befestigt eine Kette. Die Länge der Kette hing von der Höhe der Decke ab. Am obersten Glied der Kette eine in den Holzbalken eingeschlagene Krampe. Da die ganze Anlage jahrelang halten mußte, war es völlig aussichtslos, sie aus der Decke ziehen zu wollen.
Ich hatte Zaumzeughaken gesehen, die nur auf die Kette gehängt waren und leicht abgenommen werden konnten, aber nach nutzlosen und ermüdenden Anstrengungen war mir klar geworden, daß es mir hier nicht so leicht gemacht wurde.
Aber irgendwo, dachte ich, irgendwo muß ein schwaches Glied sein. Buchstäblich ein schwaches Glied. Im Laden bekam man die Haken nicht mit Ketten zu kaufen. Man schnitt irgendeine Kette auf die benötigte Länge zu, und irgendwo mußte sich also ein Verbindungsglied befinden.
Die Wölbung der Haken streifte an meine Haare, und meine Handgelenke waren etwa sechs Zentimeter darüber festgebunden. Das ließ mir wenig Hebelwirkung, aber eine andere Hoffnung hatte ich nicht. Ich begann mich zu drehen, stemmte die Unterarme auf die Haken und verdrehte die Kette, hängte mich daran und hörte, daß sich die Glieder aneinander rieben. Nach zweieinhalb Umdrehungen konnte ich sie nicht mehr weiterdrehen. Sobald es mir gelang, darüber hinwegzukommen, würde das schwache Glied auseinanderreißen.
Die Theorie war einfach. Sie in die Praxis umzusetzen, erwies sich als schwierig. Sobald ich an der Kette drehte, verkürzte sie sich, meine Arme wurden höher hinaufgezogen, die Hebelwirkung verringerte sich. Außerdem begannen sie mir jetzt im Ernst wehzutun.
Ich drückte, so stark ich konnte. Nichts rührte sich. Ich drehte sie ein wenig zurück, setzte wieder an. Der Anprall fuhr durch meinen ganzen Körper und riß mich von den Beinen. Mühsam raffte ich mich wieder hoch, ging ein wenig in die Grätsche und begann von neuem. Diesmal spürte ich die Erschütterung nur bis zur Brust. Ich versuchte es wieder. Die Kette hielt.
Zur Abwechslung befaßte ich mich wieder mit dem Heftpflaster und konnte es nach einer Weile ganz entfernen. Endlich war mir die Möglichkeit gegeben, laut zu schreien. Ich schrie.
Niemand kam. Meine Stimme hallte in der Kammer, klang laut in meinen Ohren, aber ich fürchtete, daß der
Wind draußen sie verschlucken würde. Ich schrie, mit kurzen Pausen, lange Zeit. Ohne Erfolg.
Und jetzt, es war etwa eine Stunde, nachdem Kemp-Lore gegangen war, stiegen Angst und Wut in mir hoch.
Ich fürchtete für meine Hände, die ich nicht mehr spürte. Ich zitterte nicht bloß, sondern schauderte vor Kälte, und die Blutzufuhr zu meinen Händen mußte sich buchstäblich hochquälen; die Fessel um meine Handgelenke wurde immer enger.
Ich mußte mich dem schrecklichen Gedanken stellen, daß meine Hände am Morgen abgestorben sein würden, wenn ich hier die ganze Nacht zubringen mußte. Meine Einbildungskraft ging ungebeten mit mir durch. Abgestorben. Gangrän. Amputiert.
Das kann er nicht gewollt haben, dachte ich plötzlich. Das hat er doch nicht vorgehabt. Niemand kann so gemein sein. Ich erinnerte mich an die Befriedigung in seiner Stimme. Er hatte mir doch sicher nur eine Lehre erteilen und mich nicht für das ganze Leben zum Krüppel machen wollen.
Die Wut gab mir Kraft und Entschlossenheit zurück. Ich gedachte nicht zuzulassen, daß er sein Ziel erreichte. Die Kette mußte zerreißen.
Ich drehte sie wieder bis zum Anschlag und riß daran; der Atem blieb mir weg. Ich befahl mir, nicht nachzulassen. Ich ließ locker und riß, ließ locker und riß, stemmte mich gegen die Haken, versuchte sie mit aller Kraft herumzudrehen. Die Kette klirrte und hielt.
Ich ging methodisch vor. Sechsmal zerren, dann eine Pause, sechsmal zerren, eine Pause. Unaufhörlich, sechsmal zerren, Pause, bis ich zu schluchzen anfing.
Wenigstens erwärmt mich die Bewegung ein bißchen, dachte ich mit einer Spur von Galgenhumor, aber das war ein schwacher Trost für die unerträglichen Schmerzen in meinen Armen und Schultern, für die glühendheißen Zangen, die sich in meinem Genick festgebissen hatten, oder für den Einschnitt der Fessel in meine Handgelenke, als die Reibung die Haut wegschürfte.
Sechsmal zerren, Pause. Sechsmal zerren, Pause. Die Pausen wurden länger. Jeder, der schon einmal mit Heftpflaster auf den Augen geweint hat, wird wissen, daß die Tränen in der Nase herunterlaufen. Wenn ich hochschluckte, bekam ich sie in den Mund, salzig, der Geschmack war mir zuwider.
Sechsmal zerren, Pause. Ich wollte nicht aufhören. Ich weigerte mich, aufzuhören. Sechsmal zerren, Pause. Sechs. Pause.
Nach einer Weile verdrehte ich die Kette in der anderen Richtung. Ich dachte, daß die Kette dadurch schneller auseinanderreißen und meinen Muskeln Erleichterung verschaffen würde, aber ich irrte mich. Ich versuchte es wieder anders herum.
Die Zeit verging. Weil ich nicht sehen konnte, wurde ich schwindelig. Ich begann zu schwanken und in den Knien einzuknicken, wenn ich mich nicht konzentrierte, und beides schadete meinen Armen ungemein.
Warum - anreißen - wollte - anreißen - die verdammte Kette - anreißen - nicht zerbrechen. Ich wollte nicht zugeben, daß mir das zuviel war, ohne mich bis zum Ende abzuplagen, obwohl die Versuche, endlich aufzuhören, einfach dazuhängen, bewußtlos zu werden und Fieber zu haben, immer stärker wurde. Aber dieser Frieden würde nur vorübergehend, täuschend, nutzlos, gefährlich sein.
Ich riß und riß, wie mir schien, stundenlang, manchmal schluchzend, manchmal fluchend, vielleicht manchmal sogar betend.
Ich war völlig unvorbereitet, als es endlich passierte. Im Augenblick zuvor raffte ich den Rest meiner Willenskraft zusammen, um wieder anzureißen, und im nächsten, nach einem krampfhaften, verzweifelten Aufbäumen, stürzte ich zu Boden, während der Zaumzeughaken klirrend auf mich fiel, immer noch an meine Handgelenke gebunden.
Ein paar Sekunden lang konnte ich es kaum glauben. Alles drehte sich um mich, ich fand mich nicht mehr zurecht. Aber der Boden unter meinem Körper war hart, roch nach Staub, war wirklich, feucht und Zuversicht einflößend.
Nach einer Weile, als ich wieder einigermaßen zu mir gekommen war, warf ich mich auf die Knie, so daß endlich das Blut in meinen Armen nach unten strömte und steckte die Hände zwischen die Schenkel, um sie zu wärmen. Sie fühlten sich an wie Klumpen erstarrten Fleisches, ohne Gefühl, ohne Bewegung. Die Fessel um meine Handgelenke schnitt nicht mehr so stark ein, seit sie kein Gewicht mehr zu tragen hatte, und jetzt hätte das Blut Platz gehabt, in die Hände zurückzukehren, dachte ich, wenn es nur wollte.