Die unvorstellbare Erleichterung, die Arme endlich nach unten nehmen zu können, ließ mich eine Weile vergessen, wie sehr ich fror, wie naß ich war, wie weit davon entfernt, warm und trocken zu werden.
Ich war beinahe guter Laune, als hätte ich einen entscheidenden Kampf gewonnen, und so war es schließlich auch.
Kapitel 12
Das Knien wurde mir bald beschwerlich, ich kroch am Boden dahin, bis ich eine Wand erreichte und mich sitzend dagegenlehnen konnte.
Das Pflaster auf meinen Augen klebte immer noch fest. Ich versuchte es abzukratzen, indem ich es an den Fesseln rieb, aber ich erreichte nichts. Die Haken behinderten mich, ich stieß sie mir immer wieder ins Gesicht und schließlich gab ich es auf und konzentrierte mich darauf, meine Hände zu wärmen. Abwechselnd klemmte ich sie zwischen die Schenkel und schlug sie gegen die Knie, um den Blutkreislauf anzuregen.
Nach langer Zeit stellte ich fest, daß ich die Finger bewegen konnte. Ich spürte sie immer noch nicht, aber es war doch ein gewaltiger Fortschritt, und ich erinnere mich daran, daß ich mindestens zehn Minuten lang gelächelt habe.
Ich hob die Hände zum Gesicht und versuchte, das Heftpflaster mit dem Daumennagel herunterzukratzen. Mein Daumen glitt über meine Wange, kam am Rand des Pflasters zum Stillstand, und als ich vom Ellbogen aus andrückte, bog er sich und rutschte davon. Ich versuchte es wieder. Ich mußte das tun, weil ich die Kammer nicht verlassen konnte, solange ich blind war. Draußen war es kälter, meine Füße waren immer noch gefesselt, und in diesem Zustand blind herumwandern zu müssen, wollte mir nicht behagen. Ich beugte den Kopf und steckte den rechten Daumen in den Mund, um ihn zu wärmen. Alle paar Minuten prüfte ich den Erfolg am Rand des Heftpflasters und erreichte
schließlich, daß der Daumen andrücken konnte, ohne sich zu biegen. Ich brauchte nur eine Ecke hochzuziehen, aber selbst das dauerte sehr lange. Schließlich konnte mein Daumennagel ein Stück Heftpflaster hochziehen, das groß genug war, um es mit beiden Handgelenken fassen zu können, und nach ein paar vergeblichen Versuchen und einer Reihe wilder Flüche konnte ich das hartnäckige Ding endlich abreißen.
Blendend heller Mondschein drang durch die offene Tür und ein Fenster herein. Ich saß an der Rückwand, die Tür zu meiner Linken. Über meinem Kopf und ringsum an den Wänden befanden sich leere Holzhaken für Sättel und Zaumzeug, Regale und ein Schrank an der Wand mir gegenüber.
Mitten von der Decke hing, blaß im Mondlicht, eine Eisenkette von einem halben Meter Länge.
Ich starrte meine Hände an. Der Zaumzeughaken glitzerte. Kein Wunder, daß ich soviel Mühe gehabt hatte, dachte ich. Kette und Haken waren fast neu. Nicht die dunklen, alten, rostigen Geräte, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich schluckte erschrocken. Es war ganz gut, daß ich das nicht gewußt hatte.
Meine Hände, einschließlich des Daumens, den ich zu wärmen versucht hatte, waren weiß. Beinahe so weiß wie meine Arme. Beinahe so weiß wie die Nylonschnur. Nur die Handgelenke waren dunkel.
Ich streckte die Hände aus. An den Knöcheln waren sie mit weißer Nylonschnur gefesselt. Meine Finger brachten die Knoten nicht auf. Meine Taschen waren leer. Kein Messer, keine Zündhölzer. In der ganzen Sattelkammer gab es nichts, womit man schneiden konnte. Ich stand mühsam auf, lehnte mich an die Wand und schlurfte langsam und vorsichtig zur Tür. Mein Fuß stieß gegen einen Gegenstand, und ich blickte hinunter. Am Rand eines Mondscheinflecks lag das auseinandergerissene Kettenglied.
Ich ging zur Tür und stieg die Stufe hinunter. Dort stand der Eimer, grau und drohend. Ich sah mich im mondbeschienenen Hof um. Drüben an der Wand der Wasserhahn und daneben, am Boden, etwas, das ich mit großer Freude entdeckte. Ein Stiefelabkratzer aus dünnem Metall, in Beton gebettet.
Mit kleinen, vorsichtigen Schritten humpelte ich auf dem Kies dahin, und der schneidende Wind nahm meinem Körper die letzte Wärme.
Ich lehnte mich an die Wand, beließ einen Fuß auf dem Boden und spannte das Seil über den Stiefelabkratzer und rieb es hin und her. Die Schneide des Abkratzers war nicht scharf, das Seil neu; es dauerte lange, bis ich es durchgescheuert hatte, aber endlich riß es auseinander. Ich kniete nieder und versuchte dasselbe mit der Fessel an meinen Handgelenken zu erreichen, aber der Zaumzeughaken kam mir dauernd dazwischen und behinderte mich. Ich stand erschöpft auf. Es sah so aus, als würde ich den schweren Haken noch eine Weile mit mir herumschleppen müssen.
Meine Beine wieder bewegen zu können, verlieh mir jedoch ein wunderbares Gefühl der Freiheit. Steif und vor Kälte zitternd ging ich um das Haus herum. Alles war dunkel, und alle Läden an den Parterre-Fenstern waren geschlossen. Leer wie die Stallung. Eine unwillkommene, aber nicht unerwartete Entdeckung.
Ich ging schwankend am Haus vorbei und die Auffahrt hinunter. Sie war lang. Am Tor gab es kein Häuschen, nur die Tafel eines Grundstücksmaklers, auf der zu lesen war, daß dieser wunderbare Herrensitz zu verkaufen sei, zusammen mit moderner Stallung, zehn Hektar Land und einem Obstgarten.
Ich stieß auf eine Landstraße, ohne zu wissen, in welcher Richtung die Zivilisation zu erreichen war. Ich versuchte mich zu erinnern, aus welcher Richtung der Mini-Cooper gekommen war, aber es gelang mir nicht. Es schien schon so lange her zu sein. Ich starrte automatisch auf mein linkes Handgelenk, aber da war nur eine Fessel, keine Uhr. Da es nur zwei Möglichkeiten gab, wandte ich mich nach rechts. Die Straße zog sich endlos dahin, und hinter den niedrigen Hecken lag nur flaches Land, keine Autos kamen, nirgends sah ich Licht. Ich verfluchte den Wind und stolperte, von Schmerzen gepackt, weiter, mich an die Tatsache klammernd, daß es schließlich doch auch irgendwo mal ein Haus geben müsse, wenn ich weit genug ging.
Worauf ich zuerst stieß, war kein Haus, sondern etwas viel Besseres. Eine Telefonzelle. Sie stand ganz allein, hell erleuchtet, massiv und einladend an der Ecke, wo der Weg in eine größere Straße mündete, und ich löste das peinliche Problem, mich an der Tür eines Fremden wie eine Vogelscheuche präsentieren und erklären zu müssen, wie ich in diesen Zustand geraten war.
Es gab viele Leute, die ich hätte anrufen können. Die Polizei, einen Krankenwagen oder die Feuerwehr; aber bis es meinen nahezu immer noch unbrauchbaren Händen gelungen war, die Tür so weit aufzumachen, daß ich meinen Fuß hineinzwängen konnte, hatte ich Zeit zum Nachdenken gehabt. Sobald ich irgendeine Behörde verständigte, mußte ich mit endlosen Fragen rechnen, Aussagen zu Protokoll geben und wahrscheinlich die Nacht im örtlichen Krankenhaus verbringen. Ich hatte eine Abneigung gegen Krankenhäuser. Außerdem herrschte kein Frost, obwohl ich mich vor Kälte kaum rühren konnte. Die Pfützen am Straßenrand hatten keinen Eisüberzug. Das Rennen in Ascot würde stattfinden, Template würde zum Kampf um den Winter-Cup antreten, und James wußte nicht, daß sein Jockey, zum Reiten unfähig, herumwanderte.
Unfähig ... Zwischen dem Auftauchen der Telefonzelle und dem ungeschickten Abnehmen des Hörers kam ich zu dem Schluß, daß ich Kemp-Lore nur dann um die Früchte seines Sieges bringen konnte, wenn ich hinging und ritt -und gewann, wenn es ging. Wenn ich so tat, als sei das alles nicht geschehen. Alles war bisher nach seinem Willen gelaufen. Ich wollte mich von ihm nicht unterkriegen lassen.
Ich wählte mühsam die Vermittlung, nannte die Nummer meiner Kreditkarte und bat, mich mit dem einzigen Menschen auf der Welt zu verbinden, der mir helfen, Stillschweigen bewahren und nicht versuchen würde, mich von den Dingen abzuhalten, die ich vorhatte.
Ihre Stimme klang schläfrig. Sie sagte: »Hallo?«
»Joanna ... hast du zu tun?« fragte ich.
»Zu tun? Mitten in der Nacht?« sagte sie. »Bist du’s Rob?«