Ich dachte über das Cup-Rennen nach. Sehr viel hing davon ab, wie es sich entwickeln würde, aber prinzipiell hatte ich vor, mich am Geländer zu halten, den ganzen Umlauf auf dem vierten Platz zu reiten und die letzten sechshundert Meter zu sprinten. Es gab da eine neue irische Stute mit Namen Emerald, der ein toller Ruf vorauseilte; sie wollte erst geschlagen sein, zumal ihr Jockei ein sehr geschickter Bursche war. Falls Emerald in der letzten Kurve führte, mußte Template in ihrer Nähe sein und nicht auf dem vierten Platz abwarten. So schnell er auch war, ich durfte mich nicht allein auf sein Finish verlassen.
Es ist bei den Jockeis nicht üblich, während eines Rennens im Umkleideraum zu bleiben; ich sah, daß mich die Betreuer überrascht anstarrten. Ich stand auf, nahm den Unterjersey und Lord Tirrolds Renndreß und ging in den Waschraum, um mich umzuziehen. Sollen die Kerle denken, was sie wollen, dachte ich. Ich wollte mich unbeobachtet umziehen, teils weil ich es vorsichtiger tun mußte als sonst, vor allem aber, damit sie die Bandagen nicht sahen. Ich zog die Ärmel des dünngestrickten, grünschwarzen Jerseys nach unten, bis sie die Verbände verbargen.
Das erste Rennen war vorbei. Die Jockeis strömten in den Umkleideraum, als ich zu meinem Platz zurückging. Ich zog Breeches, Nylonstrümpfe und Stiefel an und trug
Sattel und Ballastdecke zur Probewaage, damit Mike die Bleistücke einfüllen konnte.
»Sie haben Handschuhe an«, meinte er.
»Ja«, sagte ich gelassen. »Es ist ziemlich kalt. Aber zum Reiten nehme ich besser seidene.«
»Okay«, sagte er. Erholte aus einem Korb ein Bündel weicher Handschuhe und gab mir ein Paar. Ich ging zur Eichwaage, um mich prüfen zu lassen, und gab meinen Sattel an Sid weiter, der schon darauf wartete.
»Der Chef hat befohlen, daß ich Template im Stall satteln und ihn dann, wenn es Zeit ist, sofort in den Paradezirkel bringen soll, ohne vorher in die Sattelbox zu gehen.«
»Gut«, sagte ich mit Nachdruck.
»Zwei Privatdetektive und ein Riesenhund haben die ganze Nacht Wache gehalten. Und ein dritter Privatdetektiv sitzt bei Template in der Box. So einen Zirkus haben Sie noch nicht gesehen!«
»Wie geht’s dem Pferd?« fragte ich lächelnd. Offenbar hielt James sein Wort, daß Template nicht gedopt sein würde.
»Er wird Sie fertigmachen«, sagte Sid lakonisch. »Die Iren werden gar nicht wissen, was passiert ist. Alle Betreuer haben einen ganzen Wochenlohn auf ihn gewettet. Ja, ich weiß, daß sie ein bißchen verärgert waren, weil Sie ihn reiten, aber ich habe Sie am Donnerstag auf Turniptop beobachtet und ihnen gesagt, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.«
»Danke«, sagte ich.
Die Zeit verging langsam. Meine Schultern schmerzten. Um mich abzulenken, stellte ich mir Kemp-Lores Gesicht vor, sobald er meinen Namen auf der Anzeigetafel las. Zuerst würde er das für einen Irrtum halten und auf eine
Berichtigung warten. Aber jeden Augenblick muß ihm klar sein, daß ich tatsächlich hier bin, dachte ich grimmig.
Während des zweiten Rennens saß ich im Umkleideraum neugierig beäugt von den Betreuern. Ich zog die braunen Handschuhe aus und ersetzte sie durch die weißen. Ich bewege meine Finger. Die Schwellung war weitgehend abgeklungen, und trotz der aufgesprungenen und empfindlichen Haut schienen die Finger wieder kräftiger zu sein.
Wieder kamen die anderen Jockeis lachend, fluchend und diskutierend zurück, teilten freundliche und weniger freundliche Beschimpfungen aus, brüllten die Betreuer an, warfen ihre Sachen auf die Bänke - und ich schien in einer anderen Welt zu leben.
Mühsam verging eine weitere Viertelstunde. Dann steckte ein Funktionär den Kopf herein und schrie: »Jockeis auf die Plätze bitte beeilen.« Ich stand auf, zog den Anorak an, schnallte meinen Helm fest, nahm meine Peitsche und ging mit den anderen zur Tür. Immer noch kam mir alles unwirklich vor.
Auf dem Sattelplatz, wo im Juni die Bänder in der Hitze flatterten, standen Pferdebesitzer und Trainer durchfroren herum, die meisten bis zu den Augen in dicke Schals eingehüllt. Der helle Wintersonnenschein täuschte eine Wärme vor, der tränende Augen und blau angelaufene Nasen widersprachen. Aber mein Anorak schützte mich gegen den Wind.
Lord Tirrolds Miene zeigte dieselbe aufgeregte Erwartung, wie ich sie schon bei James bemerkt hatte. Sie sind beide felsenfest davon überzeugt, daß Template gewinnen wird, dachte ich unsicher. Ihre Zuversicht schwächte die meine.
»Na, Rob«, sagte Lord Tirrold und drückte mir die Hand.
»Jetzt geht’s um die Wurscht!«
»Ja, Sir«, erwiderte ich, »das kann man wohl sagen.«
»Was halten Sie von Emerald?« fragte er.
Wir sahen sie mit gesenktem Kopf im Ring herumgehen.
»Sie soll eine zweite Kerstin sein«, meinte James, auf die beste Rennstute des Jahrhunderts anspielend. »Man kann sich noch kein endgültiges Urteil erlauben«, entgeg-nete Lord Tirrold. Ich fragte mich, ob er dasselbe dachte wie ich, daß es nach dem Winter-Cup vielleicht anders aussehen mochte. Aber wie um diese Möglichkeit auszuschließen, fügte er hinzu: »Template wird sie schlagen.«
»Das glaube ich auch«, stimmte James zu.
Ich schluckte. Sie waren ihrer Sache zu sicher. Wenn er gewann, entsprach das nur ihren Erwartungen. Wenn er verlor, würden sie mir die Schuld geben, wahrscheinlich mit gutem Grund. Template selbst stolzierte in seiner marineblauen Decke im Kreis herum, den Kopf vor dem Wind abwendend, während sein Pfleger wie ein kleines Kind an einem großen Drachen am Leitzügel hing.
Eine Glocke läutete, das Zeichen, daß die Jockeis aufsteigen mußten. James winkte dem Jungen, der Template herüberbrachte und die Decke abnahm.
»Alles in Ordnung?« sagte James.
»Jawohl, Sir.«
Templates Augen glänzten, seine Ohren standen steil in die Höhe, seine Muskeln schienen nur auf den Start zu warten. Das Bild einer gespannten, sprungbereiten Rennmaschine. Er war kein braves Pferd und erregte eher Bewunderung als Zuneigung, aber ich mochte ihn wegen seines Temperaments, seiner Angriffslust und seines Siegeswillens.
»Du hast ihn lang genug bewundert, Rob«, sagte James scherzend. Ich zog den Anorak aus und warf ihn auf die
Decke. James half mir in den Sattel, ich nahm die Zügel und steckte die Füße in die Steigbügel.
Was er in meinem Gesicht las, weiß ich nicht, aber er sagte plötzlich besorgt: »Ist etwas?«
»Nein«, erwiderte ich. »Alles bestens.« Ich lächelte zu ihm hinunter.
Lord Tirrold sagte: »Viel Glück«, als sei ich gar nicht darauf angewiesen, ich legte die Hand an die Mütze und ritt Template zur Parade auf dem Kurs.
Auf einem Turm in der Nähe des Startplatzes stand eine Fernsehkamera. Der Gedanke an Kemp-Lore, der mich jetzt auf dem Monitor sehen mußte, erwies sich als wunderbares Gegengift für den eiskalten Wind. Wir ritten fünf Minuten lang im Kreis herum, elf Pferde insgesamt, während der Startergehilfe die Gurte fester schnallte und über die Kälte jammerte.
»Aufstellen«, rief der Starter, und wir bildeten eine Reihe quer über die Bahn, Template ganz innen neben dem Geländer.
Ich beobachtete die Hand des Starters. Er hatte die Gewohnheit, die Finger zu strecken, bevor er den Hebel umlegte, und ich dachte gar nicht daran, ein anderes Pferd vor mir wegzulassen, damit es mir die Position, die ich am Geländer eingenommen hatte, streitig machen konnte.