Der Starter streckte die Finger. Ich stieß Template in die Flanken. Er brauste davon, unter dem hochschnellenden Startband heraus, während ich flach auf seinem Hals lag, um nicht heruntergerissen zu werden. Andere Reiter, die zu früh gestartet waren, konnten das nicht verhindern. Das Band pfiff über meinen Kopf dahin, und wir waren auf dem Weg, ungefährdet am Geländer, und die nächsten zwei Meilen von der Innenbahn nicht zu vertreiben.
Die ersten drei Hindernisse waren die schlimmsten, was meinen Zustand betraf. Bis wir das vierte - den Wassergraben - hinter uns hatten, waren die Wunden an meinem Rücken wieder aufgebrochen, meine Arme und Schultern schienen von Hämmern zermalmt zu werden, und ich hatte erfahren müssen, wieviel meine Handgelenke und Hände zu erdulden hatten.
Als wir hinter dem Wassergraben aufkamen, fühlte ich nur noch Erleichterung. Alles war erträglich. Ich kam damit zurecht, konnte es ignorieren und mich auf meine Aufgabe konzentrieren.
Von meinem Standpunkt aus war der Rennablauf unkompliziert, weil ich vom Start bis zum Ziel nur drei andere Pferde sah, Emerald und die beiden nur leicht gehandikapten Tiere, denen ich erlaubt hatte, in Führung zu gehen und das Tempo zu bestimmen. Die Jockeis dieser beiden Pferde ließen ständig eine sechzig Zentimeter breite Lücke zwischen sich selbst und dem Geländer; und ich überlegte mir, daß sie beim vorletzten Hindernis auf der Geraden wie üblich etwas zu den Tribünen hinüberdrängen würden, wie das in Ascot gebräuchlich ist, um mir damit eine Lücke zu schaffen, durch die ich vorwärtsdringen konnte.
Meine Hauptaufgabe bis dahin verlangte, Emerald daran zu hindern, daß sie statt Template diese Öffnung nutzte. Ich beließ nicht Platz genug zwischen mir und den beiden ersten Pferden, damit Emerald nicht herein konnte, so daß die Stute den ganzen Weg auf der Außenbahn zurückzulegen hatte. Es spielte keine Rolle, daß sie einen guten halben bis einen Meter vor mir war; da konnte ich sie besser sehen, und Template war ein zu geschickter Springer, um sich irritieren zu lassen.
In unveränderter Reihenfolge beendeten wir die erste Runde und rasten wieder hinaus. Template übersprang die vier Hindernisse in Richtung Swinley Bottom so großartig, daß wir die Schrittmacher allzusehr bedrängten, ich mußte ihn auf der flachen Strecke jedesmal ein bißchen zurücknehmen, um nicht zu früh an die Spitze zu gehen, hatte aber dabei darauf zu achten, daß Emerald sich nicht zwischen die führenden Pferde und Template drängen konnte. Von Zeit zu Zeit sah ich das grimmige Gesicht von Emeralds Jockei. Er wußte sehr wohl, was ich da trieb, und wenn ich nicht als erster am Geländer gewesen wäre, hätte er dasselbe mit mir gemacht. Vielleicht hatte ich es Kemp-Lore zu verdanken, daß er nicht einmal den Versuch unternommen hatte; wenn der Ire durch Kemp-Lores Bemühungen, meinen Ruf zu zerstören, leichtsinnig geworden war, sollte es mir nur recht sein.
Die nächste halbe Meile liefen die beiden Pferde an der Spitze wunderbar, aber am drittletzten Hindernis benützte einer der Jockeis seine Peitsche, der andere arbeitete schon mit beiden Händen. Sie waren erledigt und wurden deshalb ein bißchen nach außen getrieben, als sie in die letzte Kurve gingen. Der Ire mußte sich zu sehr auf seine übliche Taktik versteift haben, weil er diesen Augenblick benützte, um an die Spitze zu gehen. Das war der ideale Zeitpunkt für dieses Manöver. Ich sah ihn neben mir vorwärtsspurten und beschleunigen, aber er mußte um die beiden Pferde, die gerade nach rechts ausbogen, herumgehen, wobei er Längen verschwendete. Die Stute trug sieben Pfund weniger Gewicht als Template, und in dieser Kurve verlor sie den Vorteil, der ihr durch das geringere Gewicht erwachsen war.
Nach der Kurve, als wir zum letzten Mal in die Gerade gingen und das vorletzte Hindernis vor uns hatten, war Emerald außen in Führung, dann kamen die beiden müde werdenden Pferde, schließlich ich.
Zwischen dem inneren Schrittmacher und dem Geländer war eine Lücke von neunzig Zentimeter. Ich trieb Template an. Er stellte die Ohren hoch, wölbte seine kolossalen Muskeln und stürmte in die schmale Öffnung. Am vorletzten Hindernis sprang er mit einer halben Länge Rückstand ab und landete eine Länge vor dem nachlassenden Pferd, so nah an ihm vorbeizischend, daß ich den anderen Jockei überrascht aufschreien hörte.
Eines von Templates großen Talenten war seine Geschwindigkeit nach dem Aufsprung. Ohne Zögern raste er weiter, am Geländer entlang, während Emerald nur noch eine Länge vor uns war. Ich trieb Template ein bißchen an, um die Stute nicht ans Geländer kommen und mich am letzten Hindernis blockieren zu lassen. Sie brauchte nur zwei Längen Führung, um das ungefährdet tun zu können, aber ich dachte nicht daran, das zuzulassen.
Das einmalige Erlebnis bei einem Ritt auf Template lag in dem Gefühl unermeßlicher Kraft begründet. Auf ihm hatte man es nicht nötig, aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen, auf die Fehler der anderen zu hoffen und im Finish nichts mehr zulegen zu können. Er hatte genug Kraftreserven, um seinem Jockei zu ermöglichen, sich das Rennen nach Wunsch einzuteilen, und etwas Schöneres gab es überhaupt nicht.
Als wir auf das letzte Hindernis zu galoppierten, wußte ich, daß Template Emerald schlagen konnte, wenn er nur halbwegs so gut sprang wie sonst auch. Sie führte mit einer Länge und zeigte keinerlei Ermüdungserscheinungen, aber ich hielt Template immer noch zurück. Zehn Meter vor dem Hindernis gab ich ihm freie Hand. Ich stieß ihm in die Flanken, preßte die Schenkel zusammen, und er flog wie ein Engel über das Hindernis, hoch, weit hinauf, als hätte er Flügel.
Er rückte um eine halbe Länge näher an die Stute heran, aber sie gab nicht so leicht auf. Ich sank in den Sattel zurück, trieb Template mit aller Kraft an, und er streckte sich. Auf der flachen Strecke holte er Emerald ein. Sie ging noch eine kurze Strecke mit, aber Template war nicht zu halten. Er stürmte mit unglaublichem Tempo an ihr vorbei und gewann schließlich ganz klar mit zwei Längen Vorsprung.
Es gibt Gelegenheiten, bei denen Worte nicht ausreichen, und ich konnte nur noch Templates Hals immer und immer wieder tätscheln. Ich hätte ihn am liebsten abgeküßt. Ich hätte ihm alles gegeben. Wie bedankt man sich bei einem Pferd? Wie sollte man sich bei ihm für einen derartigen Sieg bedanken?
Die beiden großen, breitschultrigen Männer konnten ihre Freude kaum verbergen. Sie standen nebeneinander, erwarteten uns auf dem eingezäunten Platz, wo die Pferde abgesattelt wurden. Ich lächelte sie an, nahm die Füße aus den Steigbügeln und stieg ab. Auf den Boden - zurück auf die Erde. Das Ende eines unvergeßlichen Erlebnisses.
»Rob«, sagte James kopfschüttelnd. »Rob.« Er tätschelte Template und sah mir zu, wie ich den Sattelgurt mit zitternden Fingern aufschnallte.
»Ich hab’ gewußt, daß er es schafft«, sagte Lord Tirrold. »Was für ein Pferd! Was für ein Rennen!«
Endlich hatte ich den Sattelgurt offen und den Sattel unter dem Arm, als ein Funktionär Lord Tirrold bat, sich nicht zu entfernen, weil man in wenigen Minuten den Cup überreichen würde. Zu mir sagte er: »Würden Sie bitte nach dem Abwiegen gleich wieder herauskommen? Für den Siegerjockei gibt es auch eine Trophäe.«
Ich nickte und ging hinein, um mich auf die Waage zu setzen. Jetzt, da die Konzentration auf das Rennen überstanden war, entdeckte ich, welche Schäden ich davongetragen hatte. Alle Muskeln an meinen Schultern und die Arme hinunter bis zu den Fingerspitzen waren wie Blei, durchzuckt von brennenden und stechenden Schmerzen. Ich war schrecklich schwach und müde, und die Schmerzen in meinen Handgelenken hatten sich so verstärkt, daß ich die Zähne zusammenbeißen mußte, um mir nichts anmerken zu lassen. Ein schneller Blick zeigte, daß die Verbände blutig geworden waren, ebenso die Stulpen der seidenen Handschuhe und zum Teil auch der Unterjersey.
Mit breitem Lächeln nahm mir Mike im Umkleideraum den Sattel ab und den Helm vom Kopf.