Einen Wandschrank für meine Sachen gab es noch. Ich machte die Tür auf und versuchte mir den Inhalt so anzusehen, wie ihn Paulina betrachtet haben mußte, die beiden
Male, als sie hier gewesen war. Ein guter dunkelgrauer Anzug, eine Smokingjacke mit schwarzer Hose, ein Sportsakko, zwei graue Hosen und eine Reithose. Ich zog meinen Anzug aus und hängte ihn hinter die bescheidene Garderobe, eine braune Tweed-Kombination. Mir genügten diese paar Sachen. Ich war für alle Gelegenheiten gerüstet. Sir Morton Henge zählte seine Anzüge sicher nach Dutzenden und ließ sie von einem Diener pflegen. Ich hob die Schultern. Bei dieser melancholischen Bestandsaufnahme kam nichts heraus. Paulina war fort und aus. Ich nahm die schwarzen Slipper aus dem Schrank, machte die Tür zu und zog Blue jeans und ein altes kariertes Hemd an. Dann dachte ich an die zeitliche Wüstenei zwischen jetzt und den Rennen am nächsten Tag. Das Dumme bei mir war, daß sich der Hindernisrennsport zu einer Art Rauschgiftsucht entwickelt hatte, so daß alle normalen Vergnügungen, sogar Paulina, lediglich dazu gedient hatten, mir die Stunden zu vertreiben, die ich fern von den Rennplätzen verbringen mußte.
Mein Magen krampfte sich ein wenig zusammen, was ich gerne auf romantische Betrübnis angesichts der neuesten Enttäuschung zurückgeführt hätte, aber leider wußte ich sehr genau, daß es nur die Folge dreiundzwanzigstün-digen Fastens war. Ich gestand mir wehmütig ein, daß das bedauerliche Ende meiner Verbindung mit Paulina zumindest meinen Appetit nicht angegriffen hatte, und machte mich auf den Weg zur Küche. Bevor ich sie jedoch erreichte, wurde die Wohnungstür aufgerissen, und herein marschierten Eltern, Onkel und Vetter.
»Hallo, Liebling«, sagte meine Mutter und hielt mir eine glatte, wohlriechende Wange zum Kuß hin. Das war ihre übliche Begrüßung für jedermann, von Impresarios bis zu Chorsängern, und sie entbehrte auch mir gegenüber jeglicher Mütterlichkeit. Sie war überhaupt kein mütterliches
Wesen. Groß, schlank und unglaublich schick, in einem Stil, der mühelos wirkte, aber das Ergebnis angestrengten Nachdenkens und großer Kosten war, wurde sie mehr und mehr zu einer >vornehmen Präsenz<, je näher sie den Fünfzig rückte. Als Frau war sie leidenschaftlich und temperamentvoll, als Künstlerin eine erstklassige Interpretin Haydns, dessen Klavierkonzerte sie mit zauberhafter, penibler, ekstatischer Präzision spielte. Ich hatte harte Musikkritiker ihre Konzerte mit Tränen in den Augen verlassen sehen. Aus diesem Grund hatte ich auch nie mit einer sok-kenflickenden, kuchenbackenden Mama gerechnet.
Mein Vater, der mich stets mit höflicher Freundlichkeit behandelte, sagte zur Begrüßung: »Hast du einen guten Tag gehabt?«
Das fragte er immer. Ich antwortete gewöhnlich kurz angebunden ja oder nein, weil ich wußte, daß er sich nicht im Ernst dafür interessierte.
»Ich habe gesehen, wie sich ein Mann umgebracht hat«, sagte ich. »Nein, es war kein guter Tag.«
Fünf Gesichter wandten sich mir zu. Meine Mutter sagte: »Was meinst du damit, Liebling?«
»Ein Jockei hat sich auf dem Rennplatz erschossen. Ganz in meiner Nähe. Es war scheußlich.«
Sie standen alle fünf da und starrten mich offenen Mundes an. Ich bedauerte, davon angefangen zu haben, denn die Erinnerung war noch viel schrecklicher als die Tat selbst.
Sie waren aber keineswegs betroffen. Der Cello-Onkel machte den Mund zu, ging achselzuckend ins Wohnzimmer und sagte über die Schulter: »Na ja, wenn du dir schon einen so merkwürdigen Beruf aussuchst ...«
Meine Mutter folgte ihm mit den Blicken. Eine Baßsaite schwirrte, als er sein Instrument vom Sofa nahm, und wie von einem Magneten angezogen, gingen die anderen nach. Nur mein Vetter blieb noch auf ein Wort, dann kehrte auch er zu seiner Klarinette zurück.
Ich hörte, wie sie ihre Instrumente stimmten und die Notenständer aufstellten. Sie begannen ein tänzerisches Stück für Streicher und Holzbläser zu spielen, das ich geradezu haßte. Die Wohnung ging mir plötzlich auf die Nerven. Ich zog die Tür hinter mir zu, stieg die Treppen hinunter und marschierte los.
Es gab nur einen Ort für mich, wenn ich eine bestimmte Art von Friedlichkeit wünschte, und ich wollte dort nicht so oft hingehen, aus Angst, nicht mehr willkommen zu sein. Aber ich hatte meine Cousine Joanna schon einen ganzen Monat nicht mehr gesehen und hatte ihre Gesellschaft dringend nötig. Nötig. Das war das einzig richtige Wort dafür.
Sie öffnete die Tür mit ihrer üblichen einladenden Gutmütigkeit.
»Grüß dich«, sagte sie lächelnd. Ich folgte ihr in die große, umgebaute ehemalige Remise, die ihr gleichzeitig als Wohnzimmer, Schlafzimmer und Probenraum diente. Das schräge Dach bestand zur Hälfte aus Glas, durch das die letzten Strahlen der Abendsonne hereindrangen. Die Größe und relative Leere des Raumes verlieh ihm ungewöhnliche akustische Qualitäten; im üblichen Gesprächston war nichts Besonderes zu bemerken, wenn man aber sang, was Joanna tat, hatte man die befriedigende Illusion von Weiträumigkeit und erstaunliche Schallverstärkung durch die Betonwände.
Joannas Stimme war tief, klar und voll. Bei dramatischen Passagen vermochte sie eine Spur von Rauheit zu erzeugen, die äußerst wirkungsvolle Andeutung eines Sprungs in der vollklingenden Glocke. Als Bluessängerin hätte sie ein Vermögen verdienen können, aber da sie, wenn auch entfernt, mit den Finns verwandt war, lehnte sie eine derart kommerzielle Betätigung ab. Statt dessen hatte sie eine Vorliebe für Lieder, die meinem Ohr unmelodisch und langweilig klagen, obwohl sie bei Leuten, die dafür etwas übrig haben, einen beachtlichen Ruf zu genießen schien. Sie trug Blue jeans, die mindestens so alt waren wie die meinen, und einen schwarzen Pullover mit Farbflecken. Auf einer Staffelei stand das halbfertige Porträt eines Mannes, daneben auf einem Tisch lagen Pinsel und Farben.
»Ich versuch’s mal mit Ölfarben«, sagte sie, nahm einen Pinsel und tupfte eine Stelle auf dem Bild an, »aber es geht nicht besonders gut, zum Kuckuck.«
»Dann bleib doch bei Kohle«, meinte ich. Sie hatte mit fließenden Linien die Rennpferde gezeichnet, die in meinem Schlafzimmer hingen, nicht anatomiegetreu, aber voll Leben und Bewegung.
»Das da mach’ ich wenigstens fertig«, sagte sie.
Sie drückte Karminrot aus einer Tube.
Ohne mich anzusehen, fragte sie: »Was gibt’s?«
Ich schwieg. Sie drehte sich um, den Pinsel noch in der erhobenen Hand, und sah mich ein paar Sekunden lang gelassen an.
»In der Küche habe ich ein Steak«, bemerkte sie.
Eine Gedankenleserin, meine Cousine Joanna. Ich lachte sie an und ging hinaus in den langen, schmalen Anbau, wo sie sowohl badete als auch kochte. Es war Rumpsteak, dick und dunkelrot. Ich grillte es zusammen mit ein paar Tomaten und machte Salatwürze für den Kopfsalat, den ich vorbereitet in einer großen Holzschale gefunden hatte. Als das Steak fertig war, schnitt ich es durch, tat es auf zwei Teller und trug das Ganze zu Joanna hinein. Es roch herrlich.
Sie legte ihren Pinsel weg und kam zum Essen herüber. Die Hände wischte sie sich an ihrer Hose ab.
»Das eine muß man dir lassen, Rob, du kochst nicht übel«, sagte sie.
»Danke ergebenst«, antwortete ich mit vollem Mund.
Wir aßen alles auf. Ich war als erster fertig, lehnte mich zurück und sah ihr zu. Sie hatte ein faszinierendes Gesicht, voll Kraft und Charakter, mit geraden dunklen Brauen und, heute abend, ohne Lippenstift. Sie hatte ihr kurzes, gewelltes Haar hinter den Ohren glattgekämmt, aber oben fiel es doch ein bißchen wuschelig in die Stirn.