Nachdem ich mich von James verabschiedet hatte, fuhr ich zum Haus hinauf. Ich hatte es noch nie von der Nähe gesehen und stellte jetzt fest, daß es vier Zimmer hatte und in einem kleinen, umzäunten Garten stand, durch den ein schmaler Weg von der Garten- zur Eingangstür führte. Jeder Raum hatte ein Fenster, zwei vorne, zwei hinten.
Ohne Schlüssel hineinzukommen, erwies sich als leicht, da fast alle Fensterscheiben zerbrochen waren; ich entriegelte eines der Fenster und stieg hinein.
Es roch muffig und ein wenig verfault. Wände und Dielen waren noch in gutem Zustand. Und in einem der Räume nur entdeckte ich Feuchtigkeit. Ich sah, daß alle vier Zimmer auf eine kleine Diele hinausgingen, und dachte mir während der Besichtigung, daß sich für meine Zwecke nichts Günstigeres finden ließ.
Ich ging zur Haustür hinaus, schlenderte nach hinten, holte Joannas Maßband aus der Tasche und maß den Fensterrahmen; neunzig Zentimeter hoch, einszwanzig breit. Dann marschierte ich wieder nach vorn, zählte die zerbrochenen Scheiben und maß eine davon ab. Schließlich fuhr ich zu James zurück und bat ihn, mir das Haus ein paar Tage zu leihen, um ein paar Dinge unterbringen zu können, für die ich in meinem Zimmer keinen Platz hatte.
»So lange Sie wollen«, billigte er geistesabwesend.
»Darf ich ein paar Fenster einglasen und ein neues Schloß anbringen lassen, damit mir nichts gestohlen wird?« fragte ich.
»Gern«, sagte er.
Ich bedankte mich, fuhr nach Newbury und ließ mir bei einem Glaser zehn Fensterscheiben, Kitt, eine Anzahl nach meinen Angaben zugeschnittene Rohre, einen Eimer, Schrauben, ein großes Schloß, einen Sack Zement, einen Eimer grüne Farbe, ein Kittmesser, einen Schraubenzieher, einen Spachtel und einen Pinsel herrichten. Ich lud alles in den Wagen und fuhr zu dem Haus zurück. Ich strich die verwitterte Eingangstür an und ließ sie zum Trocknen offen, wobei ich mir dachte, daß man es keinem Menschen übelnehmen konnte, wenn er in dieser einsamen Gegend nicht wohnen wollte.
Ich betrat eines der Hinterzimmer und zertrümmerte alle noch vorhandenen Glasscheiben. Draußen im Garten rührte ich Zement mit Wasser aus der Regentonne an und stellte sechs neunzig Zentimeter lange Eisenrohre aufrecht in einer Reihe quer in das Fenster. Dann ging ich um das Haus herum in die Diele und schraubte am Türpfosten und an der Tür desselben Zimmers die Beschläge für das Schloß an. Die Klinke an der Innenseite der Tür montierte ich ab.
Schließlich mußte ich noch das Glas im Fenster an der Vorderseite ersetzen, was mich am meisten Zeit kostete, weil ich den alten Kitt herauskratzen und den neuen einstreichen mußte, aber endlich war ich fertig, und mit den ganzen Fenstern und der frisch gestrichenen grünen Tür wirkte das Häuschen doch wesentlich freundlicher.
Ich lächelte vor mich hin, holte den Wagen und fuhr nach London zurück.
Der schottische Arzt trank mit Joanna Gin, als ich aufsperrte.
»Ach nein«, sagte ich unfreundlich.
»Doch«, brummte er. »Sie hätten gestern zu mir kommen sollen, erinnern Sie sich?«
»Ich hatte zu tun«, erwiderte ich.
»Ich seh’ mir nur mal die Handgelenke an«, sagte er, stellte das Glas weg und stand entschlossen auf.
Ich seufzte, setzte mich an den Tisch und ließ mir die Verbände abnehmen. Sie waren wieder blutig.
»Hab’ ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen vorsichtig sein?« fragte er streng. »Wie soll denn das heilen? Was haben Sie gemacht?«
Ich hätte sagen können, > Schrauben eingeschraubt, Kitt herausgekratzt und zementiert<, aber statt dessen murmelte ich nur: »Nichts.«
Gereizt klatschte er mir einen frischen Verband auf die Wunde, und ich zuckte zusammen.
»Also«, sagte er, als er fertig war, »machen Sie mal ein bißchen Pause. Und kommen Sie am Freitag in die Sprechstunde.«
»Am Samstag«, korrigierte ich. »Am Freitag bin ich nicht in London.«
»Also gut, am Samstag vormittag. Aber bestimmt.« Er hob sein Glas, leerte es und verabschiedete sich freundlich, aber nur von Joanna. Sie kam lachend zurück, nachdem sie ihn hinausgeleitet hatte.
»Sonst ist er nicht so unfreundlich«, meinte sie. »Aber ich glaube, er argwöhnt, daß wir uns irgendeiner tollen Orgie hingegeben haben, weil du ihm nicht sagen wolltest, wo du dir das geholt hast.«
»Da hat er recht«, sagte ich mürrisch.
Zum dritten Mal legte ich mich aufs Sofa und lag in der Dunkelheit wach, Joannas leisen Atemzügen lauschend. Jeden Tag fragte sie zögernd, ob ich noch eine Nacht bleiben wolle, und da ich nicht die Absicht hatte zu verschwinden, solange noch die Chance bestand, ihren Widerstand wegzuschmelzen, nahm ich die Einladung jedesmal an, obwohl mir von Tag zu Tag klarer wurde, daß kein Brot besser gewesen wäre. Ein halber Laib, in Gestalt von Joanna, die fünf Meter von mir entfernt im Bett schlief und in einem hübschen Nachthemd ins Badezimmer zu laufen pflegte, war außerordentlich unbefriedigend.
Aber ich hätte ohne Schwierigkeiten entweichen und zu einem weniger quälenden Nachtschlaf in mein eigenes Ben zurückkehren können; wenn ich das nicht tat, war es meine eigene Schuld, und das machte ich ihr auch klar, wenn sie sich jeden Morgen dafür entschuldigte, unfair zu mir zu sein.
Am Mittwoch vormittag ging ich zu einer großen Fotoagentur und bat um ein Bild von Maurice Kemp-Lores Schwester Alice. Ich bekam einen ganzen Stoß Fotografien vorgelegt. Alice war ein auffallendes Mädchen mit dunklem Haar, vorstehenden Backenknochen, schmalen, brennenden Augen und strengem Mund. Nicht mein Geschmack. Ich kaufte ein Exemplar eines Bildes, auf dem sie Sportjacke und Kopftuch trug. Dann fuhr ich zum Büro der Steuerberater meiner Eltern und überredete Mr. Stewart dazu, mir zuerst eine Schreibmaschine und dann seinen Fotokopierapparat zu überlassen.
Auf einfaches Papier schrieb ich einen Bericht über Kemp-Lores Verhalten gegenüber Grant Oldfield und fügte hinzu, daß als Folge von Axminsters Vertrauen in Kemp-Lores Anschuldigung Oldfield seine Stellung verloren, einen Nervenzusammenbruch erlitten und Behandlung in der Nervenklinik durchgemacht hatte.
Ich fertigte von diesem Bericht zehn Abschriften an und stellte dann mit dem Fotokopierapparat je zehn Kopien der Erklärungen von Lubbock und James her.
Ich bedankte mich bei Mr. Stewart und fuhr zu Joanna zurück.
Ich zeigte ihr das Foto von Alice Kemp-Lore.
»Aber sie gleicht ihrem Bruder gar nicht«, sagte Joanna. »Der Bahnbeamte in Cheltenham kann sie nicht gesehen haben.«
»Nein«, gab ich zu. »Es war Kemp-Lore selbst. Kannst du ihn mit einem Kopftuch zeichnen?«
Sie holte ein Blatt Zeichenpapier und skizzierte mit Kohle das Gesicht, das ich jetzt mit Widerwillen in meinen Träumen zu sehen pflegte.
»Ich habe ihn nur im Fernsehen gesehen«, meinte sie. »Es ist nicht besonders gut.« Sie fügte ein Kopftuch hinzu und ließ mit ein paar Strichen die Andeutung einer Locke über der Stirn entstehen. Dann legte sie den Kopf zur Seite, betrachtete ihr Werk und betonte die Lippen, bis sie dunkel und voll wirkten. »Lippenstift«, sagte sie erklärend. »Kleidung?«
»Reithose und Sportsakko. Das einzige, was Männer und Frauen gleich gut tragen können.«
»Donnerwetter«, sagte sie und starrte mich an. »War doch einfach, nicht? Herr mit Lippenstift und Kopftuch, und schon war er nicht wiederzuerkennen.«
Ich nickte. »Aber er hat die Leute immer noch an Maurice Kemp-Lore erinnert.«
Sie zeichnete Kragen, Krawatte und die Schultern eines Sakkos mit Revers. Eine hübsche Reiterin schälte sich immer deutlicher heraus. Ich bekam eine Gänsehaut.
Joanna sah mich mitfühlend an.
»Du kannst es kaum ertragen, ihn anzusehen, nicht wahr?« sagte sie. »Und du sprichst im Schlaf.«
Ich rollte das Blatt zusammen, tippte ihr damit auf den Kopf und sagte: »Dann kauf ich dir Watte für die Ohren.«
»Das war aber ein großes Risiko, sich als Mädchen auszugeben«, meinte sie lächelnd.