mein Instinkt wird sich also daran gewöhnen müssen, daß wir weitläufig verwandt sind, sonst schleppst du mich noch zu Claudius Mellit, damit er mich analysiert oder einer Gehirnwäsche unterzieht. Ich werde mich bemühen«, schloß sie ernsthafter, »dich nicht sehr lange warten zu lassen.«
»In diesem Fall schlafe ich weiterhin auf deinem Sofa, so oft wie möglich, damit ich bei der Hand bin, wenn es soweit ist«, meinte ich.
Sie lachte. »Ab heute abend?« fragte sie.
»Ich glaub’ schon«, sagte ich lächelnd. »Mein Zimmer ist nämlich recht ungemütlich.« - »Au!« sagte sie.
»Aber ich muß auf jeden Fall am Sonntagabend wieder hier zurück sein. Ich muß mich wenigstens ein bißchen für die Pferde interessieren, seit James wieder mein Arbeitgeber ist.«
Wir blieben auf dem Heuballen sitzen und unterhielten uns gelassen, als sei nichts geschehen, und es war ja auch nichts passiert, bis auf ein Wunder, auf dem man zuverlässig eine Zukunft aufbauen konnte, das Wunder, daß Joannas Hand jetzt in der meinen lag. Die Minuten tickten dahin, bis es elf Uhr wurde.
»Wenn er nun nicht kommt«, sagte sie.
»Er kommt schon.«
»Es wäre mir beinahe lieber, wenn er nicht käme«, meinte sie.
»Die Briefe genügen ja.«
»Du vergißt nicht, sie aufzugeben, wenn du zu Hause bist?« ermahnte ich.
»Natürlich nicht, aber ich würde am liebsten bleiben.« Ich schüttelte den Kopf.
Wir behielten das Gartentor im Auge. Der Minutenzeiger auf meiner Uhr rückte über die Zwölf hinaus.
»Er verspätet sich«, sagte sie.
Fünf nach elf, zehn nach elf.
»Er kommt nicht«, murmelte Joanna.
»Er kommt«, sagte ich.
»Vielleicht hat er Verdacht geschöpft, sich erkundigt und herausgefunden, daß hier keine Mrs. Doris Jones wohnt«, meinte sie.
»Er hat gar keinen Grund, argwöhnisch zu sein«, erklärte ich.
»Nach dem Fernsehinterview am letzten Sonntag wußte er keinesfalls, daß ich ihm auf die Schliche gekommen war. Und was ich seither getan habe, kann er nicht erfahren haben. James und Tick-Tock haben mir fest versprochen, keinem Menschen etwas von dem gedopten Zucker zu erzählen. Kemp-Lore muß sich nach wie vor unverdächtig und unentdeckt fühlen. Wenn er seiner Sache so sicher ist, wie ich glaube, wird er eine Gelegenheit, etwas so Belastendes wie das mit dem angeblichen Doping zu erfahren, nicht ungenützt verstreichen lassen ... und er wird kommen.«
Viertel nach elf.
Er mußte kommen. Ich entdeckte, daß alle meine Muskeln angespannt waren, als lauschte ich mit dem ganzen Körper, nicht nur mit den Ohren. Ich bewegte die Zehen im Schuh und versuchte, mich zu entspannen. Es gab Verkehrsstockungen, Pannen, Umleitungen, eine Unzahl von Dingen, die ihn aufhalten konnten. Der Weg war weit, und er mochte sich verschätzt haben, als er berechnet hatte, wie lange er brauchen würde.
Zwanzig nach elf.
Joanna seufzte und rutschte hin und her. Wir schwiegen zehn Minuten lang. Um halb zwölf sagte sie wieder: »Er kommt nicht.« Ich schwieg. Um elf Uhr dreiunddreißig hielt ein cremefarbener Aston Martin vor dem Gartentor, und Maurice Kemp-Lore stieg aus. Er streckte sich, steif vom langen Fahren, und besichtigte das Haus. Er trug einen großartig geschnittenen Sportsakko zu einer Cordhose, jede seiner Bewegungen verriet Eleganz und Grazie.
»Donnerwetter, sieht der gut aus«, hauchte mir Joanna ins Ohr. »Das kommt im Fernsehen gar nicht richtig zur Geltung. Man kann sich kaum vorstellen, daß jemand, der so jung und nobel aussieht, anderen Leuten auch nur ein Haar krümmen könnte.«
»Er ist dreiunddreißig«, sagte ich, »Nero starb mit neunundzwanzig.«
»Du weißt wirklich die ausgefallensten Dinge«, murmelte sie.
Kemp-Lore schob den Riegel am Gartentor zurück, kam den Weg herauf und klopfte an die Haustür. Wir standen auf, Joanna nahm einen Halm von ihrem Rock, schluckte, lächelte mir unsicher zu und ging in die Diele hinaus. Ich folgte ihr und stellte mich an die Wand, wo ich verdeckt war, sobald sie die Tür öffnete.
Joanna fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Los«, flüsterte ich.
Sie legte die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür.
»Mrs. Jones?« sagte die honigsüße Stimme. »Entschuldigen Sie die Verspätung.«
»Wollen Sie nicht ‘reinkommen, Mr. Kemp-Lore?« bat Joanna mit ihrem Cockney-Akzent. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.«
»Danke«, sagte er und trat über die Schwelle. Joanna wich zwei Schritte zurück, und Kemp-Lore folgte ihr in die Diele.
Ich stieß die Tür mit dem Fuß zu, packte Kemp-Lore von hinten an beiden Ellenbogen, riß ihn nach hinten und stieß ihn gleichzeitig vorwärts. Joanna öffnete die Tür zu Buttonhooks Zimmer, ich hob den Fuß und gab Kemp-Lore einen gewaltigen Tritt. Er taumelte durch die Tür, und ich sah ihn mit dem Gesicht nach unten im Heu liegen, bevor ich die Tür wieder geschlossen und das schwere Schloß eingeschnappt hatte.
»Das hat schön geklappt«, sagte ich befriedigt. »Vielen Dank für deine Hilfe.«
Kemp-Lore stieß mit den Füßen gegen die Tür. »Lassen Sie mich ‘raus«, brüllte er. »Was denken Sie sich eigentlich?«
»Er hat dich nicht gesehen«, sagte Joanna leise.
»Nein. Ich glaube, wir lassen ihn im unklaren, bis ich dich nach Newbury zum Zug gebracht habe.«
»Ist das nicht zu unsicher?« fragte sie besorgt.
»Ich bleib’ ja nicht lange weg«, versprach ich. »Los.«
Bevor ich sie nach Newbury fuhr, steuerte ich Kemp-Lores Wagen hinter das Gebüsch. Ich wollte vermeiden, daß irgendein neugieriger Ansässiger sich im Haus umsah. Dann brachte ich Joanna zum Bahnhof und fuhr sofort wieder zurück, je Fahrt zwanzig Minuten, und parkte wie gewöhnlich im Gebüsch.
Ich ging leise am Haus entlang zur Rückseite. KempLore hatte die Hände durch die scheibenlosen Fenster gesteckt und rüttelte an den Eisenrohren. Sie hatten sich keinen Millimeter bewegt.
Er hörte plötzlich auf, als er mich sah, und die Wut in seinem Gesicht machte fassungsloser Überraschung Platz.
»Wen haben Sie denn erwartet?« fragte ich.
»Ich weiß nicht, was hier los ist«, sagte er. »Irgendeine alberne Gans hat mich hier vor fast einer Stunde eingesperrt, dann ist sie weggegangen. Sie können mich ‘rauslassen, aber schnell.« Sein Atem pfiff. »Da ist ein Pferd im Raum, und davon bekomme ich Asthma.«
»Ja«, sagte ich gleichmütig, ohne mich zu rühren. »Ja, ich weiß.«
Jetzt begriff er. Seine Augen weiteten sich.
»Sie waren es, der mich .«
»Ja«, antwortete ich.
Er starrte mich an.
»Sie haben das absichtlich getan? Sie haben mich absichtlich mit einem Pferd zusammengesperrt?« Seine Stimme wurde lauter.
»Ja.«
»Warum denn?« schrie er. Er muß die Antwort schon gewußt haben, aber als ich nichts erwiderte, sagte er wieder, beinahe flüsternd: »Warum?«
»Ich lasse Ihnen eine halbe Stunde Zeit, sich das zu überlegen«, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen.
»Nein«, rief er. »Mein Asthma wird immer schlimmer. Lassen Sie mich sofort heraus.«
Ich drehte mich um und trat ans Fenster. Sein Atem ging keuchend, aber er hatte noch nicht einmal den Kragen aufgemacht und die Krawatte gelockert. Er war nicht in Gefahr.
»Haben Sie keine Tabletten?« fragte ich.
»Selbstverständlich. Ich hab’ sie schon genommen. Aber sie wirken nicht, wenn ein Pferd so nah bei mir ist. Lassen Sie mich ‘raus.«
»Bleiben Sie am Fenster stehen und atmen frische Luft ein«, meinte ich.
»Es ist kalt«, wandte er ein. »Man kommt sich ja wie im Kühlhaus vor.«
Ich lächelte. »Vielleicht«, entgegnete ich. »Aber Sie haben ja Glück ... Sie können sich bewegen, um sich warm zu halten, und Sie haben Ihr Sakko an. Und ich habe Ihnen nicht drei Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet.«