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Zwei Kilometer weiter erreichte ich ein Gatter vor einem Feld, das einem Farmer gehörte, für den ich schon geritten war. Ich stieg ab, öffnete das Gatter, und führte sie hindurch. Dann ließ ich sie laufen. Sie war so gutmütig, daß es mir leid tat, sie hergeben zu müssen, aber ich konnte sie nicht im Haus behalten, konnte ein altes Jagdpferd auch nicht in James’ Stall stellen und verlangen, daß sich seine Pfleger um sie kümmerten. Ich konnte aber auch um sechs Uhr abends keinen Käufer finden und wußte im übrigen nicht, was ich sonst mit ihr tun sollte. Ich tätschelte ihr den Hals und gab ihr eine Handvoll Zucker. Dann schlug ich ihr klatschend auf die Hinterbacken und sah meine fünfundachtzig Pfund wie eine Zweijährige über das Feld galoppieren. Der Farmer würde zweifellos überrascht sein, eine fremde Stute auf seinem Land zu finden, aber es war nicht das erste Mal, daß Pferde auf diese Weise ausgesetzt wurden, und ich zweifelte nicht daran, daß er sie gut behandeln würde.

Ich drehte mich um und ging den Hügel hinunter zum Haus zurück. Es begann dunkel zu werden, und das kleine Gebäude lag wie ein Schatten in der Senke, als ich durch die Bäume und Büsche hinunterschritt. Alles war still, und ich ging leise durch den Garten zum hinteren Fenster.

Er stand immer noch dort. Als er mich sah, sagte er ganz leise: »Lassen Sie mich ‘raus.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann rufen Sie wenigstens meine Firma an und sagen Sie, daß ich krank bin. Es geht doch nicht, daß alle bis zur letzten Minute auf mich warten.«

Ich schwieg.

»Telefonieren Sie«, sagte er wieder.

Ich schüttelte den Kopf.

Er schien in sich zusammenzusinken. Er streckte die Hände durch das Gitter und preßte die Stirn an den Fensterrahmen.

»Lassen Sie mich ‘raus.«

Ich sagte nichts.

»Um Himmels willen, lassen Sie mich ‘raus!«

Um Himmels willen.

»Wie lange wollten Sie mich in der Sattelkammer lassen?«

Sein Kopf zuckte hoch, als hätte ich ihn geschlagen. Er zog die Hände zurück und umklammerte die Eisenröhre.

»Ich bin zurückgefahren, um Sie loszubinden«, sagte er hastig.

»Sofort nach der Sendung. Aber Sie waren fort. Jemand hat Sie ziemlich bald gefunden und befreit, weil Sie am nächsten Tag reiten konnten.«

»Und Sie haben die Sattelkammer leer gefunden?« fragte ich.

»Sie wußten also, daß mir nichts passiert war?«

»Ja«, sagte er eifrig. »Ja, so war’s. Ich hätte Sie sowieso nicht lange dort hängen lassen, weil durch die Fesseln die Blutzirkulation abgeschnitten war.«

»An diese Gefahr haben Sie also gedacht?« sagte ich unschuldig.

»Ja, selbstverständlich, und deshalb hätte ich Sie nicht lange hängen lassen. Wenn Sie nicht jemand befreit hätte, wäre ich selber gekommen. Ich wollte nur erreichen, daß Sie nicht reiten konnten.«

»Sie lügen«, sagte ich ruhig. »Sie sind nach der Sendung nicht zurückgekommen, um mich loszubinden. Sie hätten mich nämlich noch gefunden. Ich habe bis Mitternacht gebraucht, um freizukommen, weil niemand kam. Dann fand ich eine Telefonzelle und ließ mich abholen, aber bis der Wagen kam, so gegen zwei Uhr, hatten Sie sich nicht blik-ken lassen. Als ich am nächsten Tag nach Ascot kam, waren alle überrascht. Es sei ein Gerücht im Umlauf, sagten sie, daß ich nicht käme. Sie haben im Fernsehen sogar erklärt, mein Name auf der Anzeigetafel müsse auf einem Irrtum beruhen. Niemand als Sie hatte Grund zur Annahme, daß ich nicht kommen würde; als ich von dem Gerücht hörte, wußte ich, daß Sie nicht zurückgekommen waren, um mich loszumachen. Auch am Morgen nicht. Sie dachten, ich hinge immer noch an dem Haken, in gott-weiß-welchem Zustand ... und so wie ich es sehe, hatten Sie vor, mich unbegrenzt dort zu lassen, bis mich jemand zufällig fand ... oder bis ich tot war.«

»Nein«, beteuerte er schwach.

Ich sah ihn eine Weile stumm an, dann drehte ich mich um.

»Na schön«, brüllte er plötzlich und schlug mit den Fäusten gegen die Rohre, »na schön! Es war mir egal, ob Sie am Leben blieben oder nicht. Gefällt Ihnen das? Wollen

Sie das hören? Es war mir ganz egal, ob Sie draufgingen. Ich dachte an Sie, wie Sie dort hingen, mit anschwellenden Armen, die langsam schwarz wurden ... in endloser Agonie ... und es war mir egal. Ich blieb nicht einmal wach. Ich ging zu Bett. Ich ging schlafen. Es war mir egal. Es war mir egal ... hoffentlich sind Sie zufrieden.«

Seine Stimme brach. Er sank in sich zusammen, bis ich in der wachsenden Dunkelheit nur noch sein blondes Haar und die Hände an den Eisenrohren sehen konnte.

»Hoffentlich sind Sie zufrieden«, sagte er gebrochen.

Ich war nicht zufrieden. Überhaupt nicht. Mir war übel.

Ich ging langsam zurück in das vordere Zimmer und setzte mich aufs Heu. Ich schaute auf die Uhr. Noch drei Stunden, drei Stunden, in denen Kemp-Lores Kollegen im Fernsehstudio die schreckliche Wahrheit endlich begreifen würden, drei Stunden besorgter Spekulationen und hastiger Pläne, bis man schließlich einen alten Film vorführen würde, um die fünfzehn Minuten auszufüllen, beginnend mit der Erklärung: »Wir bedauern, daß infolge der - äh -Erkrankung von Maurice Kemp-Lore die Sendung heute abend ausfallen muß.«

Für immer, dachte ich. Ihr werdet noch staunen.

Es wurde nicht nur dunkler, sondern auch kälter. Den ganzen Tag war es kühl gewesen, aber mit dem Verschwinden der Sonne kam der Frost, und die Mauern des unbewohnten Hauses schienen ihn einzusaugen. KempLore begann wieder gegen die Tür zu treten. »Ich friere«, schrie er. »Hier ist es zu kalt.«

»Tut mir leid«, sagte ich leise.

»Lassen Sie mich ‘raus«, heulte er.

Ich saß regungslos auf dem Heu. Das Handgelenk, das er während der Rauferei umklammert hatte, tat mir weh, und wieder war Blut durch den Verband gedrungen. Ich wagte gar nicht daran zu denken, was der Schotte sagen würde, wenn er es sah. Die drei Warzen würden zweifellos mißbilligend zittern. Ich lächelte.

Kemp-Lore trat lange Zeit gegen die Tür, aber er erreichte nichts. Gleichzeitig verschwendete er sehr viel Atem, weil er ständig brüllte, daß er friere und hungrig sei und ich ihn herauslassen solle. Ich erwiderte überhaupt nichts, und nach ungefähr einer Stunde hörte das Brüllen und Hämmern auf, ich hörte ihn zu Boden gleiten und verzweifelt aufschluchzen.

Ich blieb, wo ich war, und lauschte, während er unaufhörlich stöhnte und weinte. Ich lauschte ohne Gemütsbewegung, denn ich hatte in der Sattelkammer auch geweint.

Die Zeiger krochen langsam auf dem Zifferblatt voran. Um dreiviertel neun, als nichts mehr seine Sendung retten und kaum noch ein Telefonat rechtzeitig geführt werden konnte, verklang Kemp-Lores Schluchzen. Es wurde still. Ich stand auf, ging hinaus in den Garten und atmete die klare Luft mit tiefen Zügen ein. Der schwere Tag war vorbei, und die Sterne strahlten am frostigen Himmel.

Ich ging zum Gebüsch, setzte mich in Kemp-Lores Wagen und fuhr ihn zum Gartentor. Dann ging ich zum letztenmal um das Haus herum, um mit ihm durch das Fenster zu sprechen, und er stand schon dort, sein Gesicht wie bleiches Oval hinter den Gitterstäben.

»Mein Wagen«, sagte er hysterisch. »Ich hab’ den Motor gehört. Sie fahren in meinem Wagen weg und lassen mich hier zurück!«

Ich lachte. »Nein. Sie fahren ihn selbst. So schnell und so weit Sie wollen. An Ihrer Stelle würde ich zum nächsten Flughafen fahren und verduften. Niemand wird Sie besonders hochschätzen, wenn die Briefe eingetroffen sind, und es kann nur ein oder zwei Tage dauern, bis die Zeitungen davon erfahren. Für den Rennsport sind Sie erledigt. Man kennt Ihr Gesicht in England zu gut, als daß Sie sich verstecken, den Namen wechseln und eine andere Stellung suchen könnten. Da Sie die ganze Nacht und wahrscheinlich den ganzen morgigen Tag zur Verfügung haben, bevor der Sturm losbricht und die Leute Sie mit Verachtung anstarren, können Sie ohne weiteres packen und das Land verlassen.«