»Sie meinen ... ich kann gehen? Einfach gehen?« Er schien verblüfft zu sein.
»Einfach gehen«, sagte ich nickend. »Wenn Sie sich beeilen, entgehen Sie der Untersuchung, die das National Hunt Committee auf jeden Fall durchführen wird, und Sie entgehen auch einer Anzeige. Sie können sich in irgendeinem Land niederlassen, wo Sie keiner kennt, und dort von vorne anfangen.«
»Mir bleibt wohl kaum eine Wahl«, murmelte er. Sein Asthma war kaum mehr zu bemerken.
»Und suchen Sie sich ein Land, wo es keine Hindernisrennen gibt«, sagte ich.
Er stöhnte auf und hämmerte mit den Fäusten gegen den Fensterrahmen.
Ich ging zurück ins Haus, knipste Joannas Stablampe an und sperrte das Schloß auf und öffnete die Tür. Er wandte sich vom Fenster ab und ging schwankend auf mich zu, sein Gesicht vor dem Lichtschein abwendend. Er ging durch die Tür, kam an mir vorbei, ohne mich anzusehen, und stolperte zu seinem Wagen.
Ich ging hinter ihm her und leuchtete ihm. Ich legte die Lampe auf einen Zaunpfosten, um die Hände auf alle Fälle frei zu haben, aber er schien erledigt zu sein.
Als er in seinem Wagen saß und die Tür noch offenstand, sah er mich an.
»Sie verstehen das nicht«, sagte er mit schwankender Stimme.
»Als ich ein Junge war, wollte ich Jockei werden. Ich wollte im Grand National reiten, wie mein Vater. Aber dann kam das mit der Angst vor dem Stürzen ... Ich sah den Boden unter meinem Pferd dahinrasen, und in mir krampfte sich alles zusammen, ich schwitzte, bis ich anhalten und absteigen konnte. Und dann wurde mir schlecht.«
Er gab einen stöhnenden Laut von sich und faßte sich bei der Erinnerung an den Magen. Sein Gesicht verzerrte sich. Dann sagte er plötzlich wild: »Es hat mir gut getan, zu sehen, wie sich die Jockeis Sorgen machten. Ich habe sie über die Klinge springen lassen. Das war ein wunderbares Gefühl.«
Er sah mich grimmig an, und seine Stimme schien Gift zu verspritzen.
»Sie habe ich mehr als alle anderen gehaßt. Sie ritten für einen neuen Jockei zu gut, und Sie kamen zu schnell vorwärts. Überall hieß es: >Gebt Finn die schlechten Pferde, er weiß nicht, was Angst ist.< Ich wurde zornig, als ich es hörte. Deswegen lud ich Sie zu meiner Sendung ein, erinnern Sie sich? Ich wollte dafür sorgen, daß Sie wie ein Narr aussehen. Bei Mathews hat es geklappt, warum nicht bei Ihnen? Aber Axminster stellte Sie an, und Pankhurst brach sich das Bein. Ich wollte Sie um jeden Preis fertigmachen, ich bekam Kopfschmerzen davon. Sie liefen so zuversichtlich herum, als sei Ihre Stärke selbstverständlich, und so viele Leute behaupteten, Sie würden eines Tages Champion sein ...
Ich wartete auf einen Sturz, der ziemlich böse aussah, und dann teilte ich den Zucker aus. Es klappte. Sie wissen, daß es geklappt hat. Ich kam mir vor wie ein junger Gott, wie ein Sieger, wenn ich Ihr weißes Gesicht sah und hörte, wie sich alle über Sie lustig machten. Ich habe Sie beobachtet, weil ich wissen wollte, wie Sie sich fühlten. Ich wollte sehen, wie Sie sich krümmen, wenn alle Leute, die Ihnen wichtig waren, sagten ... wie mein Vater zu seinen Bekannten ... daß es schade um Sie sei ... schade, daß Sie ein heulender kleiner Feigling sind, schade, daß Sie keinen Mut haben ... keinen Mut ...«
Seine Stimme erstarb, und seine tiefliegenden Augen waren weit aufgerissen, als starrte er in eine unerträgliche Vergangenheit.
Ich stand da und starrte auf das Wrack eines Menschen hinunter, der ein großer Mann hätte werden können. So viel Vitalität, dachte ich, so viel Talent verschwendet, um Leuten wehzutun, die ihm nichts getan hatten.
Solche Menschen kann man verstehen, hatte Claudius Mellit gesagt. Man kann sie verstehen, sie behandeln, und ihnen verzeihen.
Ich konnte ihn in gewisser Weise verstehen, weil ich in meiner Familie selbst Außenseiter war. Aber mein Vater hatte sich geduldig damit abgefunden, und ich hatte es nicht nötig, Musiker leiden zu sehen.
Behandeln ... Die Behandlung, die ich ihm an diesem Tag hatte zuteil werden lassen, mochte den Patienten nicht kuriert haben, aber er würde seine Krankheit nicht mehr weiter verbreiten. Nur darauf kam es mir an.
Wortlos schlug ich die Wagentür zu und bedeutete ihm durch eine Geste, loszufahren. Er warf mir noch einen ungläubigen Blick zu, als finde er es unverständlich, daß ich ihn frei ließ, dann fummelte er an Lichtschalter, Zündung und Schalthebel herum.
Hoffentlich fährt er vorsichtig, dachte ich. Er sollte am
Leben bleiben. Er sollte lange leben, um darüber nachzudenken, was er weggeworfen hatte. Alles andere wäre zu einfach, dachte ich.
Der Wagen begann zu rollen, und ich sah zum letzten Mal das berühmte Profil, als er in der Dunkelheit davonglitt. Die Bremslichter blinkten rot auf, als er an der Einmündung des Weges in die Straße hielt, dann bog er ab und war verschwunden. Das Brummen des Motors verklang.
Ich nahm die Lampe vom Zaunpfosten und ging ins Haus zurück, um aufzuräumen.
Verzeihen, dachte ich. Das ist wieder etwas anderes.
Es würde lange dauern, bis ich ihm verzeihen konnte.