»Es tut mir leid, Sir«, entgegnete ich wieder und meinte es ernst.
»Sie brauchen gar kein so finsteres Gesicht zu machen -ich geb’ Ihnen noch eine Chance. Ein paar Chancen sogar. Ich hab’ da einen langsamen alten Bock, den Sie am Samstag früh für mich reiten können, wenn Sie in diesem Rennen noch nicht eingesetzt sind, und zwei oder drei andere Pferde nächste Woche. Danach ... wir werden sehen.«
»Danke«, antwortete ich wie betäubt. »Vielen Dank.« Es war, als habe er mir einen Goldbarren in die Hand gedrückt statt eines Skorpions, mit dem ich gerechnet hatte; wenn ich auf seinen Pferden nicht allzu schlecht abschnitt, würde er mich vielleicht ständig als Jockei für seine weniger guten Pferde einsetzen. Das wäre für mich ein großartiger Fortschritt.
Er lächelte freundlich, beinahe knabenhaft, daß sich die Haut an seinen Augen in Fältchen legte, und er sagte: »Also, dann >Geranium< im Handikap-Rennen am Samstag in Hereford. Sind Sie frei?«
»Ja«, sagte ich.
»Und das Gewicht können Sie bringen? Dreiundsechzig Kilo?«
»Ja«, versicherte ich. Ich mußte in den beiden Tagen noch drei Pfund abnehmen, aber so angenehm war mir das Hungern noch nie vorgekommen.
»Gut, wir sehen uns dann.«
»Jawohl, Sir«, sagte ich.
Er und Lord Tirrold verließen gemeinsam den Wiegeraum, und ich hörte sie lachen. Ich sah ihnen nach, dem hageren, eckigen Lord Tirrold und dem noch größeren Trainer, die miteinander nahezu alle bedeutenden Rennen schon einmal gewonnen hatten.
James Axminster war in jeder Beziehung ein großer Mann. Einsneunzig und massiv, bewegte er sich, sprach und traf seine Entscheidungen mit klarer Selbstsicherheit. Er hatte ein großes Gesicht mit kräftiger Nase und kantigem Kinn. Wenn er lächelte, zeigten sich die unteren Zähne vor den oberen, und es war ein ebenmäßiges, kräftiges, blendend weißes Gebiß.
Sein Stall gehörte zu den sechs größten im Land - sein Jockei war die beiden letzten Jahre Champion gewesen, und zu seinen Pferden, etwa sechzig an der Zahl, gehörten mit die besten, die es überhaupt gab. In diesem Unternehmen auch nur die unterste Sprosse zu erklimmen, war beinahe ebenso angsterregend wie wundersam. Wenn ich diese Chance verpatzte, dachte ich mir, habe ich in diesem Beruf nichts zu suchen.
Fast den ganzen nächsten Tag verbrachte ich damit, mit drei Pullovern und einer Windjacke im Hyde Park herumzulaufen und der Versuchung zu widerstehen, literweise Wasser zu trinken, um zu ersetzen, was ich heruntergeschwitzt hatte. Einige von den anderen Jockeis nahmen Entwässerungstabletten, um die Flüssigkeit loszuwerden, die mehr als das Fett wiegt und leichter weggebracht werden kann, aber das einzige Mal, als ich sie benützt hatte, mußte ich feststellen, daß ich vor Schwäche kaum noch reiten konnte.
Gegen sechs Uhr kochte ich mir drei Eier und aß sie ohne Salz und Brot, dann verduftete ich hastig, weil meine Mutter ein paar Freunde zum Essen eingeladen hatte und das Mädchen, das bei diesen Gelegenheiten für uns kochte, die Küche mit demoralisierenden Wohlgerüchen erfüllte. Ich beschloß, ins Kino zu gehen, um nicht an meinen Magen denken zu müssen, aber das war kein besonders großer Erfolg, weil ich bei der Auswahl des Films nicht sonderlich vorsichtig zu Werke ging und drei Männern zusehen mußte, die sich durch eine gräßliche Wüste quälten und ihre bescheidenen Rationen brav miteinander teilten.
Dann ging ich ins Dampfbad in der Jermin Street und verbrachte dort die ganze Nacht, schwitzte am Abend etwas herunter und wieder am nächsten Morgen, als ich aufwachte. Dann kehrte ich in die Wohnung zurück und aß noch einmal drei gekochte Eier, die mir schon zum Halse heraushingen. Schließlich machte ich mich auf den Weg nach Hereford.
Der Zeiger zitterte, als ich mich mit dem leichtesten Sattel und den dünnsten Stiefeln auf die Waage setzte. Er glitt über die Dreiundsechzig-Kilo-Marke, pendelte zurück und stand endlich ein Frauenhaar links von der Marke still.
»Dreiundsechzig Kilo«, sagte der Wiegemeister überrascht.
»Was haben Sie denn gemacht? Sich mit Sandpapier abgerieben?«
»So ungefähr«, lachte ich.
Im Paradezirkel starrte James Axminster zu den Nummerntafeln hinüber, wo das Gewicht, das jedes einzelne
Pferd zu tragen hatte, angezeigt wurde, falls es von den Ansagen auf den Rennprogrammen abwich. Er sah mich an. »Kein Übergewicht?« fragte er.
»Nein«, sagte ich gleichmütig, als sei das die einfachste Geschichte der Welt.
»Hm.« Er winkte dem Burschen, der den langsamen alten Gaul herumführte, und sagte: »Sie müssen die alte Stute ein bißchen antreiben. Sie ist faul. Sie springt gut, aber das ist auch alles.«
Ich war es gewöhnt, faule Pferde anzutreiben. Ich trieb die Stute an, und sie sprang. Wir landeten auf dem dritten Platz.
»Hm«, sagte Axminster wieder, als ich abschnallte. Ich nahm den Sattel, ließ mich wiegen - ein halbes Pfund hatte ich verloren - und zog den Rennjersey für das andere Pferd an, auf dem ich gemeldet war; als ich in den Wiegeraum hinausging, wartete Axminster auf mich. Er drückte mir wortlos einen Zettel in die Hand. Es war eine Liste von fünf Pferden, die in der folgenden Woche für verschiedene Rennen gemeldet waren. Neben jedem Pferdenamen hatte er das vorgeschriebene Gewicht und das jeweilige Rennen vermerkt. Ich las die Liste durch.
»Na?« sagte er. »Können Sie sie reiten?«
»Ich kann vier reiten«, sagte ich. »Aber für das Rennen am Mittwoch bin ich schon vergeben.«
»Ist es wichtig? Können Sie sich nicht losmachen?« fragte er.
Ich hätte liebend gerne ja gesagt. Der Zettel in meiner Hand war die Einladung in mein privates Paradies, und immerhin bestand die Möglichkeit, daß, wenn ich eines der Pferde ablehnte, der Besitzer mich dann auch auf allen späteren nicht mehr zu sehen wünschte.
»Ich ... nein«, sagte ich. »Ich reite für den Farmer, der mir die ersten Rennen ermöglicht hat.«
Axminster lächelte schwach, und die unteren Zähne blitzten.
»Gut. Dann reiten Sie die anderen vier.«
»Danke, Sir«, sagte ich. »Sehr gerne.«
Er ging, und ich faltete die kostbare Liste zusammen und steckte sie in die Tasche.
Mein zweiter Ritt an diesem Nachmittag war für Corin Kellar. Seit Arts Tod hatte er verschiedene Jockeis eingesetzt und ihnen vorgestöhnt, wie unangenehm es sei, nicht ständig einen erstklassigen Mann zur Verfügung zu haben. Da es seine Behandlung Arts gewesen war, die einen erstklassigen Mann dazu veranlaßt hatte, ihn auf eine nicht mehr zu überbietende drastische Weise zu verlassen, hielten Tick-Tock und ich ihn für psychiaterreif, aber wir waren beide gerne bereit, seine Pferde zu reiten, und Tick-Tock war öfter auf ihnen zum Einsatz gekommen als irgendein anderer.
»Wenn Corin dich bittet, nimmst du dann Arts Posten an?« fragte ich, als wir unsere Sättel und Helme aufklaubten, um uns für das nächste Rennen wiegen zu lassen.
»Wenn er mich darum bittet, ja«, sagte Tick-Tock. »Mich treibt er nicht zur Verzweiflung.« Er sah mich schräg unter seinen spitzen Brauen an, und der schmale, weite Mund grinste unverschämt. Eine lebendige, beinahe aggressive Gesundheit formte die Züge seines Gesichts, und für einen Augenblick schien er mir mehr als je zuvor viel zu früh auf die Welt gekommen zu sein. Er war das, was ich mir unter einem Menschen des 21. Jahrhunderts vorstelle - voll intensiver Lebenskraft, seltsam unschuldig, ohne eine Spur von Teilnahmslosigkeit, Zorn oder Habgier. Neben ihm kam ich mir alt vor. Er war neunzehn.
Gemeinsam gingen wir zum Paradezirkel.
»Setz dein Grinsen auf«, sagte er. »Das Auge der Welt ist auf uns gerichtet.« Ich hob den Kopf. Von einer zugigen Plattform aus richtete eine Fernsehkamera ihre quadratische Schnauze auf uns, während sie dem Rundgang eines Falben im Ring folgte. Sie verweilte kurze Zeit auf uns, dann glitt sie weiter.