Martin Walser
Angstblüte
Eins
1
Es war Gundi. Sie klang, als sei jemand in ihrer Nähe, der nicht hören dürfe, was sie sagt. Man sah förmlich, wie sie den Kopf senkte, um Mund und Hörer möglichst dicht zusammenzubringen. Und verfügte doch in ihrem Schlößchen in der Menterschwaige über soviel Ungestörtheit, wie sie nur wollte. Eigentlich war sie entspannt. Die Gelassenheit selbst, sagte Diego, sei sie. Gelegentlich sprach er ihr sogar eine göttliche Gelassenheit zu. Aber heute gab es einen Grund für diesen Dringlichkeitston. Diego liegt im Schwabinger Krankenhaus. Er konnte morgens nicht aufstehen, konnte keinen Arm, kein Bein mehr bewegen, ist darüber so erschrocken, daß er sofort gekotzt hat. Sie hat den Notarzt gerufen, der hat Diego ins Schwabinger Krankenhaus bringen lassen, da liegt er jetzt seit achtundvierzig Stunden, die Ärzte können sich für keine Ursache entscheiden. Also Schlaganfall ist schon mal ausgeschlossen worden. MS noch nicht.
Als Karl von Kahn hörte, daß das schon vorgestern passiert war, konnte er ein zu lautes, fast klagendes Nein nicht zurückhalten.
Gundi sagte: Ja. Sagte das ganz matt.
Karl, eher heftig: Sag Lambert, ich komme sofort.
Karl, rief sie, Karl!
Er verstand nicht gleich und erfuhr, er habe Diego Lambert genannt. Das tue ihr weh. Jetzt, da Diego so elend daliege, ganz besonders.
Karl rief: Gundi, liebe Gundi, das tut mir so leid, wie ich es nicht sagen kann. Wisch es weg, hab es nicht gehört, laß es bedeutungslos sein. Ich bitte dich darum.
Gewährt, sagte sie.
Ich danke dir, Gundi, sagte er.
Also um drei, sagte sie.
Und Karl notierte: Haus 4, Abteilung 4a, Zimmer 4023. Um drei.
Gundi hauchte ein Ja.
Karl legte nach ihr auf, holte Atem und sagte es Helen weiter.
Die saß schon an ihrem Schreibtisch, der der Schreibtisch ihres Vaters war. Öfter sagte sie, wenn sie es noch zu etwas bringe, verdanke sie das ihrem zweiten Mann, der ihr erster Mann, ihr Mann überhaupt sei. Damit wollte sie sein Frühaufstehen rühmen. Karl von Kahn hatte es zur Lebensbedingung schlechthin gemacht, vor seinen Kunden auf zu sein, die Börsenkurse zu studieren, bevor seine Kunden sie studierten. Er hatte ganz unauffällig aus jedem seiner Kunden die Aufstehzeit herausgefragt. Vor sieben saß keiner vor dem Schirm. Also saß er um sieben vor dem Schirm. Also saß Helen um sieben an ihrem Schreibtisch. Sie war durch Karl zur Frühaufsteherin geworden. Das hätte, sagte sie, ihrem Vater sehr gefallen. Womit sie Karl wissen ließ, daß viel mehr, als ihrem Vater zu gefallen, nicht erreichbar war.
Als sie hörte, was Lambert passiert war, stand sie auf, kam zu Karl, der an der Tür ihres Arbeitszimmers stehengeblieben war, lehnte ihren Kopf an seine Brust und sagte: Mein armer Karl.
Karl sagte: Sag lieber, der arme Lambert.
Das war eine Lieblingsstellung: Ihr Gesicht an seine Brust geschmiegt, sein Kinn in ihren blonden Haaren. Dazu gehörte, daß er seine Arme um sie legte und mit seinem Kinn in ihren Haaren hin- und herrieb. Das ging jetzt nicht.
Er sagte: Entschuldige, bitte.
Er richtete Helen vorsichtig auf, dann streichelte er sie. Dann ging er hinauf in sein Arbeitszimmer. Dort ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen, kippte den Stuhl und sah auf die Balken und Bretter seiner schrägen Zimmerdecke.
Der Freund hatte Lambert geheißen, als er vor Karl, der wieder einmal auf seinen von Schwermut geplagten Tennispartner hatte warten müssen, stehengeblieben war und gesagt hatte: Meine Partnerin kommt auch nicht, ich finde, jetzt spielen wir. Ich bin Lambert Trautmann. Das weiß ich doch, hatte Karl gesagt. Gedacht hatte er, das seh ich doch. Und Sie sind Herr von Kahn, der Bruder Ereweins, dem ich viel verdanke. Er Ihnen auch, sagte Karl. Das freut mich, sagte Lambert.
Dann hatten sie gespielt, Lambert hatte gewonnen, aber nur knapp, und Karl hatte nichts dagegen, gegen dieses Gebirge von Mann knapp zu verlieren. Der war nicht viel größer, aber massiver, schwerer, wuchtiger. Lambert und Karl hatten dann jahrelang gegeneinander gespielt. Lambert nahm immerzu Stunden. Zuerst in der Tennisakademie bei Niki Pilic, dann bei weniger berühmten Lehrern. Karl nahm nie Stunden. Daraus, daß er trotzdem so oft gewann und verlor wie Lambert, schloß er, er sei eigentlich der bessere Spieler. Aber es war unübersehbar, daß auch Lambert sich für den besseren Spieler hielt. Lambert überraschte immer wieder mit neuen Taktiken, die er sich von seinen Lehrern beibringen ließ. Geschnittene Aufschläge und dann sofort vor ans Netz. Karl freute sich über jeden Technikimport. Je mehr Lambert ihm abverlangte, desto fröhlicher wurde er. Das war doch das reine Glück, dieses ernsthafte Gegeneinanderspielen. Wenn es einmal zweifelhaft war, ob der Ball die Linie noch berührt habe, konnte durchaus Streit entstehen. Sie waren ja Freunde geworden, und Freunde, die nicht streiten, sind keine Freunde. Um so beglückender dann, wenn sie nach einem Streit zurückfanden ins Spiel. Karl wußte immer: Wenn Lambert einmal aufhören würde zu spielen, würde er auch aufhören. Lambert war fünf Jahre jünger als Karl. Nach jedem Spiel pflegten sie den nächsten Termin zu verabreden. Für Lambert wurde es immer schwieriger, noch einen Termin zu finden. Seit Lambert in zwei Etagen in der Brienner Straße residierte, war er praktisch unerreichbar. Karl las in der Zeitung, daß Lambert keine Messe mehr ausließ. In Basel, in Paris, in Maastricht, Hannover, Salzburg und natürlich in München und sonstwo zeigte Lambert seine Potenz als Meister des Kunst- und Antiquitätenhandels. Seine Stände waren immer die größten. Aber daß er inzwischen mehr Zeit mit Gundi in deren Haus auf Menorca verbrachte, verhinderte Tennis gründlicher als alle Geschäfte zusammen. Lambert hatte offenbar Gundis Haus und Anwesen dort ins Großartige gesteigert. Auch einen Tennisplatz hatte er anlegen lassen, obwohl Gundi Tennis eher verachtete. Es sei ein Sport für Marionetten, hatte sie formuliert. Und Lambert hatte den Satz stolz lachend Karl weitergesagt.
Lambert hieß Lambert, bis er Gundi oder bis Gundi Lambert entdeckte. Sie nannte ihn von Anfang an Diego. Nach der Hochzeit erklärte sie, sie könne ihren Mann nicht mit einem Namen rufen, mit dem andere — und sie meinte die beiden Frauen, mit denen Lambert vor ihr verheiratet gewesen war — ihn gerufen hätten. Lambert war gerührt. Das war doch ein Liebessturm. Daß sie in der Villa in der Menterschwaige alle Schlösser ersetzen ließ, konnte eine praktische Maßnahme sein. Aber sie ließ alles ersetzen und erneuern, was durch eine ihrer beiden Vorgängerinnen ins Haus gekommen war. In ein paar Wochen hatte sie, ohne daß Lambert das jedesmal gleich begriff, herausgefragt, daß alle Keshans durch die erste Frau, und alles, was Biedermeier war, durch die zweite Frau ins Haus gekommen war. Hinaus damit. Lambert erlebte jede Säuberungswelle als Liebesbeweis der einundzwanzig Jahre jüngeren Gundi.
An dem, was Diego im ersten Stock der Villa präsentierte, konnte Gundi keinen Anstoß nehmen. Der Sängersaal, das war der erste Stock der Villa, die der Erfinder Ruckstuhl dem Schloß Neuschwanstein nachbauen ließ. Von Diego Bonsai-Neuschwanstein getauft. Mit dem Sängersaal hatte Diego die Bühne gefunden, die er für seine Selbstentfaltung brauchte. Seit er das Schlößchen hatte, spürte man förmlich seinen Ehrgeiz, jeden Abend für die Eingeladenen zum Ereignis werden zu lassen. Wie das dann ablief, wirkte kein bißchen vorbereitet. War es wahrscheinlich auch nicht. Er ließ immer erleben, was er gerade erlebt hatte. Wenn er in einem Buch Voltaires Satz entdeckt hatte Le superflu, chose très nécessaire, dann mußte er diesen Satz doch weitersagen und dazusagen, daß er in diesem Satz das Motto seiner Lebensarbeit und Lebensstimmung ausgedrückt sehe und daß seine Freunde, bitte, nicht über ihn lächeln mögen, wenn sie diesem Satz von jetzt an auf allen seinen geschäftlichen Papieren in bekenntnishafter Verwendung begegnen werden. Daß das Überflüssige das Notwendige sei, und das von Voltaire, seinem Hausheiligen, darauf trinken wir den Wein, den Voltaire zu schätzen wußte: Corton Charlemagne, zum Wohl.