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Gundi hat, glaubt sie, etwas entdeckt, was sie nicht Entdeckung, sondern Erfahrung nennt. Sie hat erfahren, sagt sie und bringt es zum Ausdruck, daß wir haltlos sind. Wir alle. Weil wir keine Gesellschaft sind. Geschwollen ausgedrückt, sagt sie, keine Kultur mehr sind und noch keine Gesellschaft, sondern ein Gemenge von Isolationen.

Jeder sei seines Unglücks Schmied, hat Gundi einmal zu einem ihrer Gäste gesagt, zu einem Lehrer, der sich von seinen Kolleginnen verfolgt fühlte, weil er gesagt hatte, seit die Frauen im Lehrerzimmer die Majorität hätten, sei die Wahrheit zur Fremdsprache geworden. Die Direktorin: Wenn er sich nicht sofort entschuldige, drohten disziplinarische Maßnahmen.

Gundi zitiert dann immer wieder Grundgesetzsätze, die die Illusion schaffen, Gerechtigkeit sei möglich. Nichts sei so verletzend wie die Gerechtigkeitsillusion. Dann fragt sie so lange, bis ihre Gäste die Kälte zugeben, in der sie leben. Individuum, sagt Gundi, sei der Name unserer Krankheit. Das Individuum will keine Gesellschaft, sondern sich. Sie fragt aus jedem seine Individualität heraus. Sie läßt ihn erleben, daß er stolz ist auf seine Unverwechselbarkeit. Dann fragt sie weiter, bis aus der Unverwechselbarkeit lauter Verwechselbarkeiten werden. Und sie nimmt sich nicht aus. Sie geht immer noch einen Schritt weiter als der Gast. Aber sie ist auch in der extremsten Stimmung geleitet von einem Ziel, von einer Tendenz: dem Begreifen unserer Haltlosigkeit. Sie kann jeden Gast für eine Stunde erlösen. Länger nicht, sagt sie. Aber vielleicht erinnert sich der Gast später an diese Stunde der Erlöstheit. Die soll sich nämlich anfühlen wie Freiheit. Anerkennung der Haltlosigkeit aller. Auch die, um derentwillen wir leiden, sind haltlos. Das Erlebnis der Vorwurfslosigkeit. Keinem und keiner ist ein Vorwurf zu machen. Und im richtigen Augenblick schenkt sie Tee ein, grünen Tee, und schenkt ihn ein aus der von Josef Hoffmann 1903 für die Wiener Werkstätten entworfenen Kanne. Das sagt sie jedesmal dazu. Sie sagt immer alles dazu. Sie sagt, wenn sie etwas sagt, immer dazu, woher sie das, was sie sagt, hat oder wie sie selber dazu gekommen ist. Sie feiert ihre wunderbaren Dinge unaufhörlich. Es gibt das Schöne, darauf besteht sie. Alles kann, weil es trügt, eingerissen, gestürzt werden. Nur das Schöne nicht. Sehen Sie diesen Tisch aus dem Jahr 1930, sagt sie. Sieht er nicht aus, als lebte er? Und hat doch kein bißchen Organisches. Es ist das wie ein Tischtuch niederhängende Filigrangeflecht, das ihn so lebendig erscheinen läßt. Es ist die Lebendigkeit, die nur der Kunst gelingt. Sagt sie. Und fragt den Gast, ob er das ähnlich oder ganz anders empfinde. Sie wirbt für das Schöne, mit dem sie sich umgeben hat. Marius-Ernest Sabino hat 1930 dieses Tischkunstwerk geschaffen. Sie habe das Gefühl, der Tisch klinge. Eigentlich weint dieser Tisch, hat sie einmal über den Sabino-Tisch gesagt. Aber schöner weinen könne niemand als dieser Tisch. Das sagte sie, als ein Mann ihr Gast war, dessen Frau von ihm verlangt hat, daß er sich mit ihrem Liebhaber befreunde. Daß sie dann zu dritt miteinander schliefen. Wenn nicht, sei eine Tragödie nicht auszuschließen.

Wenn Karl ihr allein zuschaute, warf er sich öfter vor, daß er nicht abschalten konnte. Er wollte doch nicht hineingerissen werden in die Leidensgröße und — lächerlichkeit von Leuten, die ihn nichts angingen. Es war immer Gundi, die ihn nicht abschalten ließ. Wie weit würde sie es heute treiben? Karl hatte den Verdacht, daß diese rabiaten Sichselbstentblößungen nur für Fernsehzwecke inszeniert wurden. Vielleicht waren das alles brave Langweiler und Gelangweilte, die sich vor den Kameras austobten, weil sie sich sonst nirgends so austoben konnten. Karl wagte aber nicht, Gundi diesen Verdacht wissen zu lassen. Gundi ertrug keine Fragen, deren Beantwortung auch nur im entferntesten mit Rechtfertigung zu tun haben könnte. Auch wenn Diego sich da einmal launisch vergriff, verformte sich ihr Gesicht nach ihren Mundwinkeln hin, die ja, egal wie fröhlich frech und ausgelassen ihr Gesicht gerade blühte, ihren sonst ebenmäßig schönen Mund mit zwei kurzen harten Rissen nach unten bogen.

Sein Freund Lambert hatte dieser Seelenführerin, sobald er sie auf dem Bildschirm entdeckt hatte, nicht zuschauen können, ohne in eine Art Abhängigkeit von der Bildschirmerscheinung zu geraten. Wenn das momentan die schönste, gescheiteste, frechste Frau war, dann gehörte sie zu ihm, dem Herrn der schönen Dinge aller Jahrhunderte. Und wenn Lambert Trautmann etwas wollte, dann fing er nicht an, sich, was er wollte, zu verbieten, dann sorgte er für Verwirklichung. Lambert sagte: Das Leben ist zu kurz für Umwege. Und schickte Gundi, die bei ihren Fernsehauftritten aus ihrer Schmucklosigkeit ein Evangelium gemacht hatte, ein Platin-Armband aus ihrem Jahrzehnt. Das Dekor schwelgte zart in japanischen Motiven, die eingebettet waren in Linien und Felder aus Diamanten, Saphiren, Rubinen und Smaragden. Das trug sie seitdem, und alle ihre Bewegungen wußten, daß sie das trug. Und Lambert durfte kommen und bleiben, und sie kam und blieb. Als Lambert einmal sagte: Es war eine Temperamentsumarmung, sagte Gundi: Eine Bewußtseinsbegegnung. Darauf Lambert: Eine Umarmungsbegegnung. Da stimmte sie zu. Ihr einfach dieses Armband zu schicken mit einer Visitenkarte und einem schönen Gruß, das war eine Provokation. Sie hatte Frauen, die ihr geschrieben hatten: Warum kein Schmuck? vor die Kamera geladen. Wochenlang tobte die Diskussion zwischen Frauen hin und her. Gundi gab zu, daß sie als junges Mädchen, wenn sie schmuckbeladene Madames gesehen hatte, sich geschworen habe: So wirst du nie! Deshalb hatte sie in ihrem Salon von Anfang an die eigene schmucklose Nacktheit gefeiert und alle Geschmückten als Nachfolgerinnen der Opfertiere verhöhnt, die, bevor sie geschlachtet wurden, geschmückt worden waren. Die Ethnologin drehte auf. Je auffälliger der Schmuck, desto bedauernswerter die Frau. Dann die Sensation: Sie schwenkt den Arm mit dem Armband vor die Kamera, gibt sich geschlagen, bekennt Ignoranz, Unreife, Vorurteil, Borniertheit und ist geheilt davon durch nichts als Liebe. Bloß keine Theorien! Bloß keine Rechthaberei! Bloß keine maßgebende Meinung, Haltlosigkeit, liebe Schwestern! Und, falls ihr’s schafft, auch ihr, Brüder! Und begleitete ihre Reden mit dem Platinarmband, das unter dem halblangen Türkisärmel ziemlich authentisch wirkte. Und gestand, daß sie von der Frauenarmee der Schmucklosen desertiere. Eine Desertion mehr. Und das wegen dem Kerl, der einem so etwas Fabelhaftes antut. Und hatte noch hingewiesen auf die winzige Silberspur um ihren Hals. Diese Nichthalskette, diese Nichtsalssilberspur habe sie ihrem Hals zugemutet, um das Armband nicht ganz allein siegen zu lassen. Gundi kriegte jede Kurve, weil sie dazusagte, daß sie jetzt wieder in einer Kurve liege. Schleudergefahr, rief sie dann. Und bat die fabelhaften Mitmenschen, über sie nicht zu urteilen, solange sie noch lebe.