In der Sendung nach der Kapitulation vor dem Armband begrüßte sie zum ersten Mal das neue Sofa, das Ruhlmann-Sofa. Sie, die Göttin in Türkis, ließ sich auf das champagnerfarbene Velours fallen und reckte und streckte und bog und krümmte sich wie neugeboren. Bis dahin hatte sie auf einem strengen, schwarzen, dänischen Ledersofa agiert. Ein edles Stück, Baujahr circa 1960, aber überhaupt kein Showstück. Dann also das Champagnervelours im goldverzierten Palisander. Und wieder war es ihr Liebster, dem sie das verdankte. Der habe ihr schwarzes Sofa nicht gut gefunden, also habe er ihr kurzerhand bei einer Auktion von Sotheby’s in Monaco das Ruhlmann-Prachtstück gekauft. Das ist jetzt ihre Welt. Aber — und das erregte Karls Eifer — sie sagte nicht dazu, daß Diego, den sie nie beim Namen nannte, das Sofa dem Fernsehen vermietet hatte. Auch als man abends noch zusammenfand, wurde nicht erwähnt, für wieviel Diego das Sofa vermietete. Wenn schon von allem die Herkunft, dann, bitte, mit Preis, liebe Gundi! Fernsehgetue. Sie ist das leibhaftige Fernsehen. Na und? Sie tut nicht so, als ginge es um Nachrichten, Informationen und dergleichen. Es geht nur ums Angeschautwerden. Von einer Million oder zwei Millionen Menschen. Jeder Zuschauer erlebt an dem, den er anschaut, das Angeschautwerden. Und nimmt teil. Ist, solange er anschaut, ein Angeschauter. So weit hat es keine der Vorgängerreligionen gebracht. Jetzt und in alle Ewigkeit. Zu Gast bei Gundi.
4
Hinter den zusammengewachsenen Mädchen hergehend, kam Karl wieder hinaus. Das Prinzip war tatsächlich: Je weiter man hinauskam, desto heller wurde es. So daß man vom Tageslicht — und heute war es Münchens frühlingsgemäß hellstes — nicht geblendet wurde. In die Steinstraße, Haidhausen, sagte er zum Taxifahrer, der höchstens von halb so weit her war wie die Thaimädchen.
Er mochte Taxifahrer, weil klar war, daß sie ihre Arbeit nur taten, um Geld zu verdienen. Da konnte auch der kulturell Befangenste nicht auf die Idee kommen, sie täten diese Arbeit, um Menschen möglichst harmonisch von der sauerstoffreichen Osterwaldstraße in die Blechschlucht Klenzestraße zu befördern. Deshalb fügte er dem Preis jedesmal das Doppelte als Trinkgeld dazu und produzierte eine Solidaritätsnummer, die ausdrücken konnte, er habe auch einmal als Taxifahrer angefangen, also komm, Kumpel, mach’s gut. Aber er setzte sich nie neben den Fahrer. Die waren alle mindestens so sauber wie er. Trotzdem. Er saß hinten.
Mußte er jetzt so tun, als sei es schlimm, daß er sich Gundi nackt vorgestellt hatte? Was war das bloß für ein Gespräch gewesen? Gundi konnte einen anschauen, daß einem anders wurde. Aber wenn man sich benähme, wie die einen anschaute, dann gäbe sie sich wahrscheinlich erstaunt und entsetzt. Die Frau des besten Freundes! Des ehedem besten Freundes! Hätte er versuchen sollen … Diego hätte es in einer vergleichbaren Lage versucht. Nicht mit Helen. Um es grob zu sagen: Helen war zu fein für Diego. Jenseits seiner sexuellen Wahrnehmbarkeit. Aber wenn Karl eine Gundi vergleichbare Frau gehabt hätte, Diego hätte es versucht und getan. Diego tat eben immer das, was er tun wollte. Diese Unverblümtheit kam an als Notwendigkeit. Karl war alles andere als unverblümt. Er war verblümt. Verblümt bis ins Innerste und Äußerste. Aber er wollte sich nichts mehr vorwerfen. Weder das, was er tat, noch das, was er nicht tat. Er wollte endlich sein, wie er war, und nicht, wie er sein sollte. Im Alter nimmt Verschiedenes ab. Auch die Kraft, moralisch zu sein. Oder sich so zu geben.
Die geschlechtliche Neugier ist ohnehin unabhängig von Sitten. Trauer, Freundschaft, Tragödie, dem diesbezüglichen Appetit ist es egal, der tendiert einfach. Er war jetzt öfter bereit zu glauben, kein Mensch sei moralisch, alle täten nur so. Vor allem schriftlich. Er hatte immer so getan, als ob er anständig sei. Und das ging nicht, ohne dann und wann wirklich anständig zu sein. Er war das, was Gundi verkündete, ohne daß sie es war. Er war haltlos. Sie tat nur so. Fernsehen! Selbst wenn sich einer im Fernsehen erschießen würde, er wäre nicht tot. Diego … Hör auf mit Diego.
Bei Diego war jede winzige körperliche Bemerkbarkeit für den Anfang einer endgüligen Krankheit gehalten worden. Er redete am Telefon ununterbrechbar über eine unerklärliche Trockenheit in der Mundhöhle anstatt über das, was Karl von ihm wissen wollte. Hoffentlich war diese neueste Lähmung wieder so eine übersteigerte Selbstwahrnehmung. Hoffentlich, dachte Karl.
Er rief noch vor Haidhausen die Firma an.
Berthold Brauch hatte schon gehandelt. Die zwei Kunden, die darauf warteten, Puma zu verkaufen, hatte er schon informiert. Karl entschuldigte sich.
Wofür denn, fragte der Partner.
Daß er geglaubt hatte, Herr Brauch habe abends kurz vor sechs noch nicht reagiert auf eine solche Nachricht. Und fragte noch, ob es bei dem Halbachttreff bleibe.
Dr. Herzig bereite im Konferenzraum schon die Charts-Präsentation vor, sagte Herr Brauch, und Frau Lenneweit verfälsche die Tafel ins Festliche.
Angenehmer als dieser Herr Brauch konnte niemand sein. Karl hatte seinen Partner sogar im Verdacht, der lege es förmlich darauf an, angenehm zu sein.
Karl rief noch schnell Severin Seethaler an. Morgen Power Lunch im Carlton, geht das? Thema: Puma für 1,2 Millionen. Falls die durch die Rückkaufaktion der Firma nicht schon zu sehr gestiegen sind.
Herr Seethaler sagte, was er immer sagt, wenn eine größere Transaktion in Sicht ist, es handle sich offenbar um einen seriösen Spaß. Er habe in der letzten Stunde das Gefühl gehabt, er müsse noch am Schreibtisch bleiben, ohne daß er gewußt habe, warum. Jetzt wisse er es. Und er freue sich.