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Alles, wozu man eine Bank braucht, wurde für von Kahn und Partner beim Bankhaus Metzler besorgt, vorne am Odeonsplatz, keine fünf Minuten vom Montgelaspalais weg, und dort von Severin Seethaler, einem Mann von unverbrauchbarer Freundlichkeit. Die Telefongespräche mit ihm waren, weil Seethaler dieses Freundlichkeitstalent hatte, nicht leicht zu beenden. Sie hätten eigentlich überhaupt nicht aufhören müssen. Immer kam der Aufhöranlaß von außen. Moment, ich muß jetzt aufhören, ein Terroranschlag, ich muß mich um die Börse kümmern.

Er hatte nicht vorgehabt, nach Haidhausen in die Steinstraße zu seinem Bruder zu fahren. Aber es war Anfang Mai. In der ersten Maihälfte war ihm sein Bruder gegenwärtiger als in jeder anderen Jahreszeit. Wenigstens noch schnell reinschauen. Seit Weihnachten hatten sie einander nicht mehr gesehen. Und Erewein meldete sich nie. Man mußte ihn anrufen, ihn besuchen. Rief man ihn an, ließ er einen merken, daß man ihn nur anrief und nicht besuchte. Also, bitte, jetzt besuchst du ihn. Eineinhalb Stunden sind noch drin.

Als er in der Steinstraße aus dem Taxi stieg, erlitt er einen Anfall von Illegitimität. Er wurde beherrscht von dem Gefühl, er dürfe den Boden nicht mehr berühren. Diese öffentliche Straße, den Bürgersteig. Ganz schnell hinein in das schmale Haus seines Bruders. Der Boden des Bruders ließ sich als Asyl empfinden. Aber bevor er die Haustür erreichte, kriegte er noch eine Dusche Lokales. Eine Frau redete auf einen Mann ein, der zu ihr, da sie größer war, aufschaute. Brez’n und Kartoffisolad, Brez’n is ned so deins, muaßd du net hom … Dann waren sie vorbei, und er war bei der nie abgeschlossenen Haustür seines Bruders. Aber heute war sie, zum ersten Mal, abgeschlossen.

Sicher wüßten Meschenmosers, die nächste Haustüre rechts, wo Erewein und Frau Lotte waren, wann sie zurückkommen würden.

Erewein und Frau Lotte lebten in vollkommener Harmonie mit Meschenmosers. Meschenmosers waren die liebenswürdigsten Menschen der Welt. Er schaute aus seiner grauen Eingewachsenheit heraus wie aus einer Grotte, sie suchte andauernd nach Möglichkeiten, etwas für andere zu tun. Meschenmosers würden ihn, wenn er bei ihnen nachfragte, nicht mehr gehen lassen. Es war gleich sechs, sollten Erewein und Frau Lotte um sieben zurückerwartet werden, würden Meschenmosers verlangen, daß Karl so lange bei ihnen säße.

Karl stand vor dem kleinen Schaufenster, das Erewein aus zwei Wohnzimmerfenstern gewonnen hatte. Um das Schaufenster herum hatte er einen bayerischen Barockrahmen gemalt und darüber geschrieben: Das Atelier YZ. In Buchstaben der Sütterlinschrift. Im Schaufenster stellte er immer das jüngste Werk aus. Kopierte Meister, Originale, Fotos, auch von ihm selbst Geschnitztes. Weil Erewein mehr als einmal gesagt hatte, er geniere sich für das ganze Ateliergetue, war Karl jedesmal froh, daß es das Schaufenster noch gab. Und wie! Ein einziges Bild füllte jetzt das ganze Schaufenster aus. Erewein mußte es für sein Schaufenster gemalt haben. Nichts als Maiglöckchen, Hunderte oder Tausende von Maiglöckchen, gehalten von ihren tiefgrün glänzenden Blättern. Der Blätterglanz war bis zur Unheimlichkeit gemalt. Die Maiglöckchen wirkten dagegen matt. Sie wußten nichts von den grellen Blättern. Sie waren die Gefangenen der gleißenden Blätter. Karl schüttelte unwillkürlich den Kopf.

Was mit Diego passiert war, konnte er Erewein telefonisch mitteilen. Erewein hatte auf der Gartenseite des Hauses eine Werkstatt, in der er für Diego restaurierte. Alles, von Möbeln bis zu Bildern. Erewein hatte zuerst geheiratet, dann hatte er Medizin studiert, war Facharzt für Urologie geworden, weil Frau Lottes Vater zusammen mit einem Dr. Petöfi eine Urologie-Praxis plus Dialyse-Station betrieb und Frau Lotte, das einzige Kind, lieber Kirchenmusik als Urologie studierte. Also sollte Erewein antreten. Als Erewein so weit war, daß er in der Praxis hätte anfangen können, merkte er, daß er nicht so weit war, wie er jetzt hätte sein sollen, und daß er nie so weit sein würde. Zum Glück hatte Dr. Petöfi zwei Söhne, sozusagen geborene Urologen, Lotte erbte also. Erewein, der nie eine einzige kunstgeschichtliche Vorlesung gehört hatte, fing an zu malen, zu fotografieren, zu restaurieren. Er war ein leidenschaftlicher Autodidakt. Er wollte beweisen, daß man sich alles selber beibringen könne. Es gab offenbar nichts, was er seine Hände, seine Augen nicht zu lehren vermochte. Am liebsten kopierte er die Bilder alter und neuerer Meister. Von Siena bis zum Blauen Reiter. In seinem Viertel bekannt wurde er durch seine Tierbilder. Wem ein Hund starb, der kam mit einem Foto zu Erewein, Erewein malte den Hund und rahmte das Bild. Und signierte immer mit YX. Man nahm’s für eine Marotte. Als Karl das letzte Mal bei Erewein gewesen war, es war am 26. Dezember, dem Todestag ihres Vaters, da kopierte Erewein gerade das Bild, das Raffael von sich gemalt hatte, als er Anfang Zwanzig war. Jetzt stell dir vor, hatte Erewein gesagt, ich müßte hoffnungslosen Nierenkranken ihre verfaulenden Zehen absäbeln, statt diesen göttlichen Buben zu malen. Schau, wie er mich anschaut. Hatte er gesagt. Für Frau Lotte, die er, wenn er von ihr sprach, immer Frau Lotte nannte, und das so nachhaltig, daß jeder, der von ihr sprach, sie Frau Lotte nannte, für sie hatte er, als sie die Kirchenmusik pfarrherrlicher Intrigen wegen nicht mehr ausüben konnte, eine Hausorgel gebaut. Drei Jahre hatte er dafür gebraucht. Dann mußte Frau Lotte, wenn sie Orgel spielen wollte, nirgends mehr betteln, mußte das Haus nicht mehr verlassen. Das war eigentlich der Sinn aller Arbeiten Ereweins: daß Frau Lotte und er das Haus nicht mehr verlassen müssen. Nicht ein einziges Mal waren Frau Lotte und Erewein drüben bei Karl und Helen in der Osterwaldstraße gewesen. Wer die zwei sprechen wollte, mußte nach Haidhausen, in die Steinstraße, kommen.

Karl glaubte, alles, was Erewein tue und was er unterlasse, habe einen Grund. Im Mai 1945. Einmal war er mit Erewein gewandert. Im April 1968. Ende April. Sie erwanderten Karls Hausberg, den Wank. Gerade war Rudi Dutschke niedergeschossen worden, Vietnam wurde mit Napalm und Phosphor übersprüht. Erewein fing vom Mai 45 an. Ausführlich. Drei Russen waren auf ihn und seine Leute zugekommen — er war Leutnant — , um ihn und seine Leute gefangenzunehmen. Er und seine Leute hatten ihre Waffen weggeworfen, hatten ihre Hände erhoben, die drei Russen hatten sich ungeschützt genähert, es war ja der 9. Mai, aber Erewein war jäh klargeworden, russische Gefangenschaft, das war ein halbes Todesurteil, also zog er in letzter Sekunde seine Pistole, die hatte er nicht weggeworfen, er wollte sich — das war der Vorsatz — lieber selber erschießen, als in russische Gefangenschaft zu geraten, aber jetzt erschoß er nicht sich, sondern drei Russen. Und die waren alle drei jünger als er. Einundzwanzig war er. Dann ab durch die Wälder. Noch vor Passau fanden sie Amerikaner, von denen sie sich gefangennehmen lassen konnten. Seine Pistole hatte er einem kriegsversehrten Bauern gegeben, bei dem sie im Heu übernachtet hatten. Erst im Gefangenenlager kehrte zurück, was passiert war. Ihm passiert war. Einmal hatte er zu Karl gesagt, als er die Russen sah, sei er vom Schock geschlagen worden. Lebensanfang, das habe er gerade noch empfunden. Wie ein Fieber. Lebensanfang. In ihm sang es Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus, da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus. Und jetzt die Russen.

Erewein war am 17. Mai geboren. Seinen Geburtstag zu feiern, etwa den fünfzigsten, sechzigsten oder siebzigsten, hat er immer abgelehnt. Karl hatte also gar nicht mehr versucht, bei Erewein oder Frau Lotte zu fragen, wie der achtzigste gefeiert werden sollte. Karl hat Erewein zu jedem Geburtstag geschrieben, kurz, aber mit deutlicher Empfindung. Erewein hat jedesmal zurückgeschrieben. Ausführlicher, erzählerischer, erinnerungsträchtiger. In einer innigen Tonart. Jedesmal hat Karl gedacht: Bruderliebe gibt es. Da Erewein das Maiereignis bis jetzt nur erwähnt hatte, wenn er mit Karl allein war, mußte Karl annehmen, er sei der einzige, dem Erewein gesagt hatte, was geschehen war, was er getan hatte. Von sich aus hätte Karl den Vorfall nie erwähnt. Aber dreimal in einem halben Jahrhundert hat Erewein selber davon angefangen. Das erste Mal hat er noch berichtet. Die nächsten zweimal war es nur noch ein Du-weißt-schon. Jedesmal mit dem Satz: Zum Überlegen blieb keine Zeit. Und: Meine Leute mußten mich wegziehen.