Die Pistole hat er bei dem Bauern, dem er sie gegeben hatte, wieder geholt. Aber Frau Lotte hat er das verheimlicht. Er hatte herausgebracht, daß Frau Lotte nicht in einem Haus leben konnte, in dem eine Waffe herumlag.
Erewein sprach nie von sich aus. Frau Lotte führte das Gespräch. Erewein bejahte, was sie sagte, durch Kopfbewegungen, er schien froh zu sein, daß seine Frau den Verkehr mit der Welt besorgte. Helen, die Hochstudierte, entdeckte in Ereweins Gesicht ein Stigma. Einen Leidenszug. Eine Art Entstellung. Nicht lokalisierbar, im ganzen Gesicht mehr spürbar als sichtbar.
Helen sagte, Erewein leide nicht darunter, daß er weniger erfolgreich sei als Karl.
Was nennst du erfolgreich, fragte Karl.
Er verdient so viel weniger als du, sein Haus ist so viel …
Mein Haus ist dein Haus, unterbrach Karl.
Ereweins Leiden, sagte sie, ist die Lebenserfolglosigkeit vom Maidrama an.
Jedesmal, wenn davon die Rede war, erinnerte sie an ihren Vater. 1944 in Holland von den Engländern gefangen genommen, nach Olham transportiert, dicht bei Manchester, ein Lager mit sechshundert Gefangenen, an Weihnachten 45 werden zweihundert ausgelost, die sind eingeladen von englischen Familien, Helens Vater ist nicht unter den Gewinnern, er arbeitet am Abend noch in der Kleiderkammer, da kommt der Lagerkommandant vorbei, Korvettenkapitän a. D. Jack Parson, der nimmt den Vater mit zu sich heim, eine Freundschaft ist geboren, die vierzig Jahre lang lebendig bleibt, Besuche hin und her, der Vater wird in Olham in der Zeitung abgebildet, wenn er bei Jack ist, bis beide tot sind. So fing das Leben ihres Vaters nach 45 an. Von Anfang an hell. Und Erewein? Das Stigma der Lebenserfolglosigkeit.
Das Handy spielte sich auf. Es war Daniela. Er sollte bedauern, daß er den Termin heute abgesagt hatte. Er bedauerte. Mehr, sagte sie, glaubwürdiger. Er soll sagen, es schmerze ihn und besonders in einer Körpergegend schmerze es ihn, daß sie einander heute nicht sähen, nicht küßten, nicht undsoweiter. Also morgen.
Er deutete an, daß morgen nichts möglich sei. Sobald er auch nur den Hauch einer Hoffnung hat auf einen neuen Termin, ruft er sie an.
Die Welt muß von einem Moralisten erfunden worden sein, dachte er. Je weniger du liebst, desto weniger hast du davon, geliebt zu werden. Darum steigerte er sich dann doch in Empfindungen hinein, die er nicht hatte. Daniela und er kämpften seit Jahr und Tag um eine Art Würde, eine Beziehungswürde. Beiden mußte daran gelegen sein, daß die Hotelnächte hier und da einen Schicksalston produzierten, den beide Ehen nicht übertönen konnten. Ach, Daniela, sagte er ganz schnell in ihren Wortschwall hinein, ach, Daniela, wenn du nicht eine so fabelhafte Zornige wärst, würde ich jedesmal, wenn du mich Unschuldigen beschimpfst, einfach aufhängen. Aber deine Arien lassen es nicht zu. Dann weinte sie natürlich. Arien nennt er das, Herzblutarien sind es, ja! Und du bist ein tauber Klotz. Also sagte er, er küsse sie, und sie sagte: Schuft, aber leider lieber Schuft, und er sagte: danke. Und legte auf. Und erlebte einmal mehr, daß Wörter nichts sind, aber für alles gut.
Um halb acht in der Firma. Es war noch nicht einmal halb sieben. Im Augenblick kam er sich vor wie ein Fragment. Also ins Roma.
Im Roma ging er, ohne sich umzusehen, auf den nächsten freien Tisch zu. Er wollte niemanden entdecken, zu dem er sich dann setzen müßte. Daß er in diesem Lokal der Älteste war, wußte er, ohne hinzuschauen. Er bestellte sein Bier. Schlug das Handelsblatt auf, war sofort, womit er immer anfing, bei Unternehmen und Märkten, kein Tag, an dem nicht etwas wirklich Aufregendes passierte. Heute Thyssen-Krupp. Dem Großaktionär Iran wird das Aufsichtsrat-Mandat entzogen. Der Aufsichtsrat hat Navab-Motlagh nicht mehr aufstellen können, weil der Konzern dadurch in Amerika ernsthaft geschädigt werde. Karl erinnerte sich noch, wie der Iran vor mehr als zehn Jahren durch seine Milliardenbeteiligung Krupp-Stahl aus der Misere gehievt hatte. Und jetzt das. Seine Thyssen-Krupp-Aktien würden darunter nicht leiden, aber ihn störte die Machtausübung, nicht nur die der USA.
Als er gerade das Neueste über Carl Icahn las, der ihn nicht wegen der Namensähnlichkeit, sondern als weltbester Firmenjäger interessierte, wurde er gestört: Amadeus Stengl.
Ich sehe, sagte der, du widmest dich dem Corporate Raider der westlichen Welt, deinem Ideal.
Meinem Idol, sagte Karl.
Eins zu null für dich, sagte Amadeus. Und wenn wir schon beim Tennis sind, dazu muß ich mich aber setzen, gratulieren tu ich dir allerdings noch stehend …
Wie ich meinen Amadeus kenne, sagte Karl, wird er mir nicht gratulieren, ohne mir zu verraten, wozu.
Stell dich nicht so, sagte Amadeus. Mir wird’s natürlich immer zuerst aufgedrängt, aber diesmal bin ich, weil’s deine Sache auch ist, glücklich, ein Erstwisser zu sein. Übermorgen steht’s in den Blättern. Das hat Puma verlangt. Interne Gründe. Nein, lieber Karl, das ist ein Coup, der deiner würdig ist. Und unser Diego kann erst recht froh sein. Neunzehn Millionen. Mit seinem 80-Prozent-Anteil reißt ihn das aus der Krise. Die tödlich hat werden wollen, das weißt du auch. In der Branche haben sie sich schon die Finger geleckt. Zwei Jahre ohne erwähnenswerte Verkäufe, nicht in Paris, nicht in Maastricht, nicht in Salzburg und in Basel auch nicht. Der stolze Diego war fast schon ein Unwert geworden. Und jetzt rettet ihn die Tennis-Chose, die er von dir hat. Neunzehn Millionen, das sind satte dreieinhalb für dich, gut, du brauchst sie nicht, aber du läßt es zu. Karl, ich gratuliere. Ich könnte mir denken, daß Diego unruhige Nächte hinter sich hat. Dieser Zusammenbruch sagt’s ja. Und die Wiederauferstehung auch. Vor einer Stunde ruft mich unsere göttliche Gundi an und meldet mir: Es geht ihm besser. Es geht ihm sogar gut. Morgen darf er heim ins Neuschwansteinchen. Mehr als einmal habe ich den historisch gerahmten Spruch an meiner Wand angeschaut, den er mir von seinem Voltaire gewidmet hat, daß Geld zu verdienen schwerer sei, als über Geld zu schreiben. Jedesmal denk ich dann, ich müßte den Gegenspruch in Alu rahmen lassen, sagend, daß Geldverdienen mit Schreiben über Geld schwerer sei, als Geld mit Geld zu verdienen. Und jetzt lädst du deinen Altfreund Amadeus zu was Spritzigem ein. Mario, zwei Dom Pérignon auf die Rechnung dieses Ihnen nicht unbekannten Herrn. Der ist nämlich schon ganz blaß vor Glück. Auch Glück will verkraftet sein.
Karl schaute ihn so an, daß Amadeus den Blick nur auf sich, auf seine szenische Darbietung beziehen mußte. Nicht auf den Inhalt. Der darf nichts merken! Bergauf beschleunigen! Auch wenn du kein Gefühl mehr in den Füßen hast. Wahrscheinlich keine Füße mehr hast. Bergauf beschleunigen!
Der Dom Pérignon kam, Amadeus sagte: Prosit.
Karl sagte auch: Prosit.
Dann sagte Amadeus: Weißt du noch, wie wir zu unserem Du gekommen sind?
Karl wußte es nicht.
Amadeus freute sich, sein Gedächtnis vorführen zu können. Sie seien miteinander schon um zehn Uhr vormittags in den Bayerischen Hof gekommen, weil Amadeus Karl bekannt machen wollte mit Mr. Milton Seaver, der in Deutschland Geld anlegen wollte und ein Frühaufsteher war. Im Foyer des Hotels stand auf dem Boden ein bißchen schräg ein Schild, darauf stand, daß man vorsichtig sein solle, der Boden sei slippery. Und: Freshly waxed. Beide hätten das gleichzeitig entdeckt, gelesen und gelacht, weil auf beide dieses Englisch rein bayerisch wirkte. Und diese Bagatelle habe beide überzeugt, daß sie antennenmäßig verwandt seien. Also sofort zum Chefportier: Etwas zum Anstoßen, bitte. Was es gewesen sei, wisse er nicht mehr, sagte Amadeus.