Karl hätte sich gern bewiesen, daß Amadeus sein Freund sei. Also zählte er immer wieder zusammen, was dafür sprach, und kam immer wieder zu dem Ergebnis, daß zwar alles Zusammenzählbare für Freundschaft sprach, daß aber seine Angst dadurch überhaupt nicht berührt wurde. Deshalb mußte er sich keine krankhafte Disposition zuschreiben. Die Angst kam allein von der Macht, die Amadeus inzwischen hatte. Hatte und genoß. Karl wußte aus Erfahrung, daß einer, der Macht hat, nicht so genau aufpassen kann, wie oder gegen wen er sie gerade verwendet.
Er sagte sich, das Wichtigste an Amadeus sei dessen Niveau. Das sprach ihm keiner ab. Amadeus selber nannte sich tatsachenfromm. Andere in seiner Branche, und es sind renommierte andere, werden im Spätsommer, wenn die Nachrichten Urlaub haben, regelmäßig kreativ und kreieren Phänomene und Probleme. Dann war es Amadeus Stengl beziehungsweise Muspilli, der in den Midas-Briefen versuchte, solche erzeugten Erregungen auf ihre wirkliche Bedeutung zurückzubringen. Er hat öffentlich Wetten angeboten, daß der Nano-Hype, der die Nanotechnologie zur Technologie des 21. Jahrhunderts hochjubelte, Firmen-Gründungen verursachte und den seriösen Investierriesen Merrill Lynch dazu verführte, aus fünfundzwanzig Papieren einen Nano-Index zu konstruieren, daß dieser mediengeheizte Schwall in einem Jahr nur noch in der Geschichte der menschlichen Anfälligkeit eine Rolle spielen werde. Ebenso war’s mit dem Stammzellen-Fieber und ähnlichen mediengemachten Hypes. Karls Kunden waren genauso ängstlich, wie es sich gehört. Für den Anleger ist das Weltgeschehen ein Schicksal, das speziell ihm droht. In jedem Augenblick steht Unheil bevor. Nur trainierteste Aufmerksamkeit kann verhindern, daß man plötzlich nichts mehr hat. Alle Werte sind andauernd den raffiniertesten und übelsten Angriffen ausgesetzt, Angriffen, die nichts als die Entwertung dieser Werte zum Ziel haben, ohnehin haben alle Werte die Tendenz, wertlos zu werden, also muß der Dienstleister hochwach sein, um nicht zu versäumen, wenn irgendwo ein neuer Wert entsteht. Amadeus hat Niveau. Wenn er auch Macht hat und dich dadurch jederzeit, selbst wenn er das gar nicht will, einfach vernichten könnte und wenn er es wollte, erst recht, so ist doch seine Macht durch sein Niveau gewissermaßen gezähmt. Ein Mann dieses Niveaus wird, wenn er bemerkt, daß er gerade dabei ist, dich zu vernichten, noch einmal stutzen, wird ES sich noch einmal überlegen.
Karl merkte: Das Wunschdenken setzt sich durch. Auf Dankbarkeit seitens Amadeus rechnete er nicht. So naiv konnte ihn kein Wunschdenken machen. Jedesmal wenn er irgendwo Amadeus Stengls weißen Rolls-Royce stehen sah, durfte er daran denken, Amadeus habe dieses Auto gekauft, um, wie er launig sagte, dem englischen Pfund etwas von dem zurückzugeben, was er ihm gerade geraubt hatte. Oder er sagte einfach: Wiedergutmachung. Eine halbe Million hat Amadeus verdient, als er sich im Sommer 92 Karls Spekulation gegen das Pfund angeschlossen hat.
Karl beobachtete nichts mit so natürlicher Neugier, mit so müheloser Aufmerksamkeit wie die Devisenmärkte. Im Sommer 92 wurden, verglichen mit der D-Mark, viele Währungen schwach. Vor allem aber Lira und Pfund. Karl spezialisierte sich auf das Pfund. Sein Devisenexperte beim Bankhaus Metzler sah das nicht anders: Das Pfund ist überbewertet, es muß sinken. Erst seit 1990 gehörte England zum Europäischen Währungssystem. Leitkurs beim Einstieg: 1 Pfund sollte 2,95 Mark wert sein. Das galt sofort als Überbewertung des Pfundes. Im Sommer 92 verkündete der Schatzkanzler in London, er werde dafür sorgen, daß der Kurs, 1 Pfund für 2,95 Mark, durchgehalten werde. Eine Pfundabwertung komme überhaupt nicht in Frage. Solche Politikerschwüre machen hellhörig. Der Markt macht den Markt, nicht der Politiker. Immer mehr Marktteilnehmer wollten ihre Pfunde loswerden. Die Devisenhändler boten mehr Pfunde an, als die Notenbanken zur Stützung des Pfundes aufkaufen konnten. Genauso ging es der Lira. Als der Kurs des Pfundes im Sommer auf 2,90 angekommen war, kaufte Karl von Kahn auf Kredit 2 Millionen Pfund und tauschte sie in Mark. Dafür wurden ihm 5,8 Millionen Mark gutgeschrieben. Dann wartete er. Das Pfund sank weiter. Im September sank es nicht mehr, es fiel. Am 9. September hatte die Bank von England aus ihren Währungsreserven schon für 10 Milliarden Pfund aufgekauft, um das Pfund wieder wertvoller zu machen. Am Mittwoch, dem 16. September, der danach der Schwarze Mittwoch hieß, hat die Bank von England weitere Pfunde für 12 Milliarden vom Markt weggekauft. Die Deutsche Bundesbank kam ihrer vom Europäischen Währungssystem vorgeschriebenen Pflicht nach und kaufte Pfunde für 14 Milliarden D-Mark. Aber niemand glaubte dieser Währung noch ihren Wert. Die englische Regierung erhöhte den Leitzins, um ausländisches Geld anzulocken. Nichts half. Um den freien Fall der Währung zu stoppen, nahm die englische Regierung schließlich das Pfund aus dem Europäischen Währungssystem. Schlußkurs: 1 Pfund gleich 2,61 Mark. Jetzt war keine Notenbank mehr verpflichtet, Pfunde zu kaufen, wenn das Pfund tiefer als 15 Prozent unter den vereinbarten Leitkurs fallen würde. Auch die Lira hatte sich verabschiedet. Wie das Pfund: «Auf unbestimmte Zeit.»
Karl wartete noch ein paar Tage, weil er annehmen durfte, daß das Pfund, nachdem es in die Marktfreiheit beziehungsweise — ehrlichkeit entlassen war, noch weiter sinken würde. Das Pfund sank auch noch gelinde weiter, aber nur noch so, daß die Zinsen, die ihn sein Millionenkredit kostete, die weitere Pfundabwertung bald aufwogen. Am 28. September zahlte er seinen Pfundkredit zurück. Der Kurs war bei knapp über 2,50 Mark angekommen. Für noch längeres Hinschauen und Warten reichte seine Nervenkraft nicht aus. Karl zahlte seinen Pfundkredit zurück, brauchte dafür aber nicht die 5 Millionen und achthunderttausend Mark, die ihm vor nicht ganz vier Wochen für die 2 Millionen Pfund gutgeschrieben worden waren, sondern nur noch 5 Millionen, hatte also achthunderttausend verdient. Kreditkosten und Spesen abgerechnet, blieben noch eher sechs- als fünfhunderttausend. Und genauso machte es, auf Karls Rat, Amadeus. Nachher, als alle Aufregungen durchgestanden waren, war Amadeus mit einem Stoß Zeitungen aufgetaucht, und sie hatten gemeinsam zur Kenntnis genommen, wie die Londoner Politiker diese Tage vor und nach dem Schwarzen Mittwoch erlebt hatten. Wie alles, was sie noch probierten, wirkungslos blieb oder die Katastrophe noch verschärfte. Die Flucht aus einer angeschlagenen Währung wird zum Naturereignis. Aber daß die Währung so dahinschwand, war die Schuld einer Politik, die glaubte, dem Markt Werte diktieren zu können.