Amadeus sparte nicht mit Komplimenten, weil dann nachzulesen war, daß George Soros, der König aller Spekulation, am Pfundverfall in knapp vier Wochen 1 Milliarde Dollar gewonnen hatte. Er hatte allerdings 5 Milliarden Pfund geliehen für seinen Angriff auf diese Währung. Aber als Anlaufstation hatte auch er die Mark gewählt, weil er wußte, die Deutsche Bundesbank würde den Finanzorkan unbeschadet überstehen. Er hatte sich dann mit vielen hundert Millionen Dollar zum weltweit größten Philanthropen gemacht. Von den Soros-Nachrichten, die Amadeus angeschleppt hatte, war für Karl eine besonders lehrreich. George Soros war gefragt worden, ob der britische Premier seine Entschlossenheit, das Pfund zu stützen, hätte deutlicher zum Ausdruck bringen können als durch die Erhöhung der englischen Zinsen. Soros lachte und sagte: Absoluter Quatsch. Als die Zinsen am Schwarzen Mittwoch angehoben wurden, wußten wir, jetzt ist es höchste Zeit, unsere Pfundverkäufe zu beschleunigen. Das kommt in mein Lehrbuch, dachte Karl, als er das las. Als Beispiel dafür, daß jedem Übel nur mit einem Mittel begegnet werden kann, das von der Natur des Übels ist. Karl hatte im August noch 1000 Optionsscheine gekauft, von denen jeder bis zum 15. September zum Verkauf von 100 Pfund zum Preis von 2,85 Mark berechtigte. Gekauft für 7,25 Mark pro Schein. Und am 31. August, als der Pfundkurs schon auf 2,79 Mark gefallen war und nicht aufhörte zu fallen, hatte er die Scheine für 19,50 Mark das Stück verkauft. Das war auch noch ein kleiner Gewinn von etwas über 10 000 Mark. Daran nahm Amadeus nicht teil. Aber auch für die halbe Million, die Amadeus durch Karl verdient hatte, erwartete Karl keine Dankbarkeit. Wenn Amadeus diese heißen Septembertage überhaupt noch erwähnte, dann eher mit einer Art Schauder. In diesen Septembertagen habe er die Erfahrung gemacht, daß er zum Spekulanten nicht tauge. Und jedesmal bewunderte er wieder Karl, weil der ihrer beider Spekulationsboot damals so ruhig durch die Finanzstürme geleitet hatte. Daß Karl praktisch, wenn auch im Mini-Format, eine Operation veranstaltet habe wie George Soros, zeige ihm, daß er, Amadeus Muspilli Stengl, eben doch nicht fürs Schlachtfeld Wirklichkeit tauge, sondern allenfalls für den grünen Tisch.
Zuweilen muß man sich der eigenen Geschichte versichern. Den Schlag, den ihm Diego versetzt hatte, durfte er nicht zur Wirkung kommen lassen. Er hat eine Geschichte, die bleibt für Diego, benehme er sich, wie er wolle, unerreichbar.
Eines Morgens war Karl von Kahn aufgewacht und wußte, er werde bei der Hypo kündigen. Baron Ratterer! Den rief er an. Der mußte, wenn etwas zu disponieren war, vor neun Uhr angerufen werden. Der Baron hatte beim letzten Gespräch diesen Satz gesagt von der Hypo-Hierarchie, daß Karl von Kahn, wenn er in dieser Hierarchie verdorren wolle, hätte gleich Pfarrer werden können.
Karl hat den Anlegern, die er für mobilisierbar hielt, ein fünfseitiges Exposé geschickt. Seine Philosophie sei erlernt durch jahrelanges Beobachten der Entscheidungen Warren Buffetts, des erfolgreichsten Anlegers des letzten Jahrhunderts. Gesucht werden Aktien, die unter ihrem wirklichen Wert notiert sind. Dazu müssen die Bilanzen und Geschäftsberichte der in Frage kommenden Firmen analysiert werden. Dann werden Portfolios zusammengestellt, in denen Sicherheit und Risiko vertretbar ausgewogen sind. Er konnte auf sein Privatportfolio verweisen. Er hat von 91 bis 2000 den Marktwert seiner Anlagen jährlich um 28,7 Prozent gesteigert. Der Vergleichsindex MSCI hat in der gleichen Zeit jährlich 17,8 Prozent erreicht. Er könne jeden Dienst zur Hälfte des Hypo-Satzes anbieten. Das sei durchgerechnet.
Man hat gefischt, wo man Fische vermutete. Spezialisierung, das war ein Luxus, den der ums Überleben kämpfende Anlageberater sich nicht leisten konnte. Spezialisierung konnte sich Karl von Kahn erst leisten, als Dirk Herzig erschienen war. Einunddreißig. Hat zuerst Geschichte studiert. Den Doktortitel erworben mit einer Arbeit über die Finanzierung der Kriege gegen Napoleon. Karl hatte eher höflichkeitshalber gefragt, ob er diese Doktorarbeit ansehen dürfe, hatte hineingeblättert und wieder von vorn angefangen und dann keine Seite mehr ausgelassen. Und hatte seitenweise kopiert. Für sich. Danach hatte er sich gefragt, wie man Geschichte ohne Finanzgeschichte überhaupt studieren könne.
Solange diese Lektüre in mir nachwirkt, hatte Karl zu seinem jungen Mitarbeiter gesagt, werde ich Sie Doktor Dirk nennen.
Es war Berthold Brauch, der diesen einsfünfundachtzig großen Nichtsalsschlanken im Rheingau entdeckt hatte. Das war vielleicht Herrn Brauchs größte Tat, seit Karl Berthold Brauch zum Partner gemacht hatte. Wieder war Amadeus Stengl im Spiel gewesen. Mit seinen Midas-Briefen. Als Muspilli hatte er dargestellt, wie der wackere Abteilungsleiter Berthold Brauch von seiner Bayerischen Handelsbank aus dem Verkehr gezogen wurde, weil er von der insolventen Immobiliengesellschaft Pretium, einer Tochter der Handelsbank im Tessin, eine Villa im Wert von eineinhalb Millionen Franken erworben hatte. Für sich erworben hatte. Vorwurf: Herr Brauch habe von Insiderwissen profitiert, also für die Villa keinen marktgerechten Preis bezahlt. Muspilli hatte den Fall über mehrere Midas-Nummern begleitet, hatte, ganz im Gegensatz zur übrigen Presse, Berthold Brauch verteidigt, Karl hatte Amadeus nach dem zweiten Artikel angerufen und ihn gefragt, ob Amadeus Stengl Herrn Brauch ein gebrauchtes Auto abkaufen würde. Amadeus: Sogar eine gebrauchte Frau würde ich dem abkaufen. Und lachte scheppernd, wie er immer, wenn er etwas Lustiges gesagt hatte, lachte. Karl traf sich mit Brauch. Eine Handbreite kleiner als Karl, noch keine sechzig und auf die allgemeinste Art gutaussehend. So gekleidet, als wolle er, bitte, nicht durch Kleidung imponieren. Nur das Hemd mit seinem dünnlinigen Rautenmuster fiel auf. Später erfuhr Karl, daß Herr Brauch alle seine Hemden selber bügle. Immer schon. Niemand könne seine Hemden zu seiner Zufriedenheit bügeln. Ein Pedant also. Aber jetzt war alles gestört, verzerrt, zerquält. Er schlief seit Wochen nur noch zwei, drei Stunden pro Nacht, er konnte die Beruhigungsreden seiner Frau nicht mehr ertragen, er ertrug sich auch selbst nicht mehr. Warum war ihm das passiert?! Nach dreißig Jahren Erfahrung! Warum hat er sich nicht vorstellen können, daß ihm Leute, Kollegen und Vorgesetzte, die schon immer darauf warteten, daß das Korrektheitsmuster Brauch einen Fehler machte, einen Fehler, den man ins Moralische zerren konnte, daß die diese Gelegenheit, sie verfälschend, ausbeuten würden! Jetzt, nachdem es passiert ist und die Presse Sachverhalte roh verkürzt und bös verdreht darstellt, daß er ein ertappter Geldganove sei, jetzt sagten die Freunde: Aber das hättest du doch wissen müssen! Karl bot ihm sofort die Partnerschaft an. Herr Brauch sagte nichts, nahm aber die von Karl angebotene Hand und hielt sie, nach Karls Eindruck, länger, als je jemand seine Hand gehalten hatte. Und Karl wußte: Mit diesem Mann nur Gutes. Die Firma mußte wachsen. Dazu war ein zweiter Mann nötig. Die Sekretärinnen wurden, wenn sie länger als fünf Jahre blieben, zu Teilhaberinnen gemacht! Das heißt, von jedem Monatsgehalt wurden zwanzig Prozent einbehalten, daraus wuchs die Beteiligung. Ohne einen Rechtsanspruch zu gewähren, hatte er beiden Sekretärinnen, als sie sich dazu entschlossen, das Gehalt um zehn Prozent erhöht, so daß sie nur auf zehn Prozent zugunsten ihrer Teilhaberschaft verzichteten. Berthold Brauch beteiligte sich sofort mit einhunderttausend, und pro Monat kamen aus seinen Bezügen eintausend dazu. Seine Rehabilitierung betrieb Herr Brauch weiter. Mit Muspillis Unterstützung. Bis schließlich die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte & Touche bestätigte, daß von einer Schädigung Dritter durch Berthold Brauch keine Rede sein könne: Der Preis für die Villa war marktgerecht. Und Muspilli höhnte über das moralische Dreitagefieber gewisser Bankkreise, die mit prinzipiell schlechtem Gewissen gegenüber der Öffentlichkeit gleich in rituelle Reinigungsorgien verfielen und ihre Compliance-Büros zur Heiligen Inquisition aufplusterten.