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Wenn sie so weit war, konnte sie an ihm liegen und leise weinen. Vor Glück, sagte sie. Wenn er sich nicht für alles, was in ihr vorgehe, so interessierte, könnte sie sich selber auch nicht dafür interessieren, und alles in ihr zerfiele sozusagen unbemerkt.

Er sagte dann: Was sie jetzt sage, sei die reine Phantasie ihrerseits, eine Blütenproduktion zur Ausschmückung der Neuen WG — sie hatten ihre Ehe von Anfang an die Neue WG genannt — , aber ihn mache dieses ihr Geschenk um so glücklicher, je deutlicher er spüre, daß er es nicht verdiene, daß es also ein reines Geschenk sei, das reine Geschenk schlechthin.

Du bist ein begabter Schatz, sagte sie und löste sich von ihm.

Jetzt aber hinauf, sagte er.

Ich entlasse dich, sagte sie.

Ich danke dir, sagte er. Daß sie jetzt nicht sagte: Ich dir! Das war eben Helen, das Kind, dem man zuhören mußte.

Es war von Anfang an so, daß sie immer mehr zu erzählen hatte als er. Sie mußte erzählen, was sie in der Praxis erlebt hatte. Sie kolportierte nichts, aber das Problemprofil ihrer Fälle mußte sie jemandem vorführen. Der erste Mann war dazu überhaupt nicht bereit gewesen, weil er seinerseits loswerden mußte, was ihm in der Schlösserverwaltung untergekommen war. Das hat nach zwölfjährigem Toleranzverschleiß zu dem natürlichsten Ehe-Ende geführt, das man sich vorstellen kann. Sebastian, dem Schlösserverwalter, mußte es allerdings noch denkgerecht vorgesagt werden. Die Ehe, die nie begonnen hat, sagte Helen über diese Ehe. Sebastian hatte sich Helens mit einer solchen Vehemenz bemächtigt, daß sie glaubte, Zeugin eines Naturschauspiels zu sein. Das ließ sie, neugierig, wißbegierig und lernfroh, wie sie war, einfach mit sich geschehen. Dr. Sebastian Miquel war einsneunzig groß und wog zweihundert Pfund. Er hatte sie Lenerl genannt.

Karl hatte begriffen, daß Helen Zuhörerschaft nicht vorgetäuscht werden durfte. Ihr Vater muß ein unersättlicher Helen-Zuhörer gewesen sein. Ihren Vater übertreffen, das sollte, wer sie wollte, wenigstens versuchen. Karl war ein Zuhörer. Zuhören war sein Beruf. Die Damen und Herren, die zu ihm kamen, reden lassen, bis sich das, was man ihnen zu raten hatte, aus dem Gehörten von selbst ergab. Die Leute beraten sich, wenn man ihnen Gelegenheit gibt, selbst.

Karl warf sich vor, daß er Helen zu wenig schätze. Sie erforschte das Leben. Er machte Geld. Geld war für sie etwas, das man hatte. Wollte man ihr etwas über Geld sagen, mußte man sich bildlich ausdrücken. Das hatte er eine Zeit lang versucht, sie hatte seine Sprachbilder kritisiert, er hatte zuzugeben, daß seine Sprachbilder für Geld mangelhaft seien. Er hatte dann aufgehört, sich ihr verständlich machen zu wollen. Wenn er empfand, wirklich empfand, daß er Helen zu wenig schätze, sagte er sich, daß sie ihn auch zu wenig schätze. Er mußte ihr immer demonstrieren, wie sehr er sich für alles interessiere, was sie tue und denke und schreibe. Was er dachte und tat, ließ sie gelten, mit Nachsicht. Sie warf es ihm gewiß nicht vor, daß er ein Geldmensch war, aber mehr als freundliches Geltenlassen durfte er nicht erwarten. Während sie doch die Eheheilerin selbst war. Und das war sie. Die Ehe sei, das hatte sie durch Studium und Praxis erkannt, das eigentlich Kranke dieser Zeit und dieser Gesellschaft. Wenn sie nicht jahrelang das Ehemartyrium unter den zweihundert Pfunden des Dr. Miquel erlitten hätte, wäre sie nicht geworden, was sie jetzt ist. Eheheilerin aus Leidenschaft. Hätte sie sofort ein Eheglück erlebt wie mit Karl, hätte sie Ehe-Therapie für einen luxuriösen Zeitvertreib halten müssen. Sie kämpft ja um jede mürbgewordene, brüchige oder schon kaputte Ehe, als hinge immer das Schicksal der Menschheit ab von diesem einzigen Fall. Und er vermehrt Geld. Das ist kulturell abgemacht: Für Wirtschaftliches muß man sich nicht interessieren. Das gehört zu keinem Kanon.

Droben in seinem Arbeitszimmer drückte er automatisch den Hebel, daß der Stuhl kippte, und sah zu den Lärchenbrettern seiner schrägen Decke hinauf. Er hatte, bevor er in Helens Haus einzog, dem Dachboden dieses Arbeitszimmer abgerungen. Von Giebel zu Giebel reichte das Zimmer unter der Dachschräge. Und die Lärchenbretter, die anfangs hell gewesen waren, wurden von Jahr zu Jahr honigfarbener. Wenn er so saß, sah er den Brettern direkt in ihre dunklen Astaugen und hatte das Gefühl, die sähen auch ihn an. Es ist nicht so schlimm, wenn man niemanden hat, mit dem man sprechen kann. Wieviel Vermeidenswertes wird da vermieden. Wenn man mit einem Menschen zusammenlebt, mit dem man eigentlich sprechen können sollte, zum Beispiel weil man mit ihm verheiratet ist, dann wird das Nichtsprechenkönnen sogar etwas Feines. Eine Art Auszeichnung. Und wenn du mit dem mit dir Verheirateten nicht sprechen kannst, kannst du mit niemandem sprechen. Und das will schon etwas heißen.

Karl lachte.

Das war auch etwas, allein zu lachen. Lachen, dazu gehören doch noch andere. Als er sich jetzt allein lachend erlebte, erlebte er sich überhaupt zum ersten Mal lachend. Wenn er mit anderen in Gesellschaft lachte, erlebte er immer nur die anderen lachend, nie sich selbst.

Und lachte noch einmal. Aber das zweite Lachen gelang nicht mehr. Er würde nie mehr allein lachen.

Er rief Erewein an. Keine Antwort. So etwas wie einen Anrufbeantworter gab es nicht bei Erewein.

Karl war froh, wenn er nicht aus sich herausgehen mußte. Sein früh verstorbener Vater, Rechtsanwalt, aber im Allianz-Dienst, soll ein in sich gekehrter Mann gewesen sein. Wegen einer Zugpanne hatte er in Erfurt aussteigen müssen, hatte den Dom aufgesucht, hatte eine junge Frau im Dom herumgehen sehen, war hinter ihr stehengeblieben, als sie vor dem Wolfram stand, als wolle sie überhaupt nicht mehr weiter. Erst durch sie hatte er die barlachhaft schöne Figur aus dem Mittelalter entdeckt. Sie ging dann so weiter, daß an ein Ansprechen nicht zu denken war.

Er hatte ihr nachfahren müssen, nämlich nach Dresden.

Angesprochen hat er sie erst, als sie in Dresden aus der Theatertür, in die sie hineingegangen war, wieder herauskam. Beschwingt herauskam, weil sie die Choreographen-Stelle gekriegt hatte. Wenn sie nicht mehr herausgekommen wäre oder nicht mehr zu dieser Tür herausgekommen oder zwar zu dieser Tür herausgekommen, aber fröhlich plaudernd mit einem sizilianischen Tänzer oder einem norwegischen Korrepetitor, dann hätte er, der Sechsundzwanzigjährige, die Einunddreißigjährige nicht ansprechen und dann auch nicht heiraten können.

Diese Überlieferung konnte Karl brauchen. Bruder Erewein, der für die Familiengeschichte zuständig war, sagte, wenn er wieder etwas ausgegraben hatte: Das sind wir. Daß er zwischen sich und Karl keinen nennenswerten Unterschied sah, war Karl nur recht. Karl hatte Erewein gegenüber ein schlechtes Gewissen. Obwohl Erewein doch offenbar genauso lebte, wie er mit Frau Lotte leben wollte, glaubte Karl, Erewein lebe andauernd neben sich her. Bei ihm selber kam das gelegentlich auch vor. Vor jedem Treffen mit Erewein und Frau Lotte bat er Helen erneut, sie möge aufpassen und ihm nachher sagen, was ihr zu diesem Paar einfalle. Das sei schließlich ihr Beruf. Helen mußte nachher jedesmal zugeben, daß ihr das Erewein-Lotte-Paar verschlossen blieb. Sie wollte nicht vorschnell Trivialitäten produzieren. Ihre wiederkehrende Aussage war: Dieses Paar ist unzugänglich. Die haben einen Kokon gesponnen, an dem gleitet Neugier ab. Sie bleiben auf das freundlichste zugewandt, aber sie bestimmen in jedem Augenblick die Entfernung. Er vermutete, daß Erewein und er einander näher waren, als es der Unterschied ihrer Lebensumstände glauben machte. Seine Ungeduld und Ereweins scheinbar unerschöpfbare Geduld waren im Innersten eine Stimmung. Was es Erewein kostete, diese Gleichmütigkeit zu zeigen, konnte nur Karl ahnen. Das war doch dasselbe bei ihm und Diego. Er, der Geschehenlasser, Diego, der Macher. So mochte es aussehen, so mochte es die ganze Welt beurteilen. Er aber nicht. Das war seine Betriebsseite, seine Berufsmethode, vielleicht auch noch seine Gesellschaftsmaske. Es kostete jedes Jahr noch mehr Selbstbeherrschung, seine andauernd ausbrechen wollende Ungeduld zu zügeln, zu verbergen. Er hatte doch keine Zeit mehr. Und er hatte nicht erreicht, was er hatte erreichen wollen. Weder Henriette noch Helen hatte er je sagen können, wieviel er von sich erwartete. Oder auch nur: Was er von sich erwartete. Er konnte den Anspruch, den er an sich stellte, nicht ermäßigen. Das hieße zugeben, er habe sein Leben verfehlt. Das Stigma der Erfolglosigkeit, würde Helen dann sagen und ihm dieses Sätzchen wie ein Etikett aufs Wesen kleben. Soweit durfte er es nicht kommen lassen. Es mußte immer noch alles möglich sein. Sonst war das Leben nicht auszuhalten. Was dann? Antwort verweigert, Euer Ehren.