Hatte denn Diego erreicht, was er wollte? In den letzten Monologen, zu denen Karl noch geladen gewesen war, hat Diego seinen Traum vom Hôtel Lambert nicht mehr erwähnt. Jeder Diego-Freund wußte, daß es zu Diegos Träumen gehört hatte, eines Tages das Hôtel Lambert in Paris zu kaufen. Diego wußte genau, wem es schon gehört hatte und wem es zur Zeit gehörte. Vielleicht hatte es Guy de Rothschild an den Baron Redé verkauft. Diego war, geschäftlich gesehen, offenbar am Ersticken und ist trotzdem noch nach Paris gefahren und hat bei der Sotheby’s-Auktion im Hôtel Lambert mitgesteigert, hat diesen Einhorn-Tisch gekauft, der verrückter als schön ist. So aggressiv, daß schön oder nicht schön keine Rolle mehr spielt. Darum hat Diego ihn, obwohl er es sich nicht mehr leisten konnte, gekauft. Das war Diego. Er hat noch in keinem seiner Nachtmonologe ausgesprochen, daß der Traum, das Hôtel Lambert zu kaufen, ausgeträumt sei. Gerade unerfüllbare Träume haben eine Kraft. Und Menschen wie Lambert sind nicht bereit, einem unerfüllbaren Traum seine Unerfüllbarkeit zuzugestehen. Einmal hatte er Karl sogar gebeten zu überlegen, wie man den Kauf des Hôtel Lambert finanzieren könnte. Ein europäisches Kulturzentrum wollte er gründen. Einen Altbundespräsidenten, der dafür eine feine Trommel rühre, finde man immer. Immerhin hatte die Freundin seines Geistesheiligen, Émilie de Châtelet, das Hôtel Lambert einmal gekauft, Voltaire wollte es einrichten, wollte einziehen mit ihr, hatte aber gerade bei einer Spekulation durch einen Monsieur Michel viel Geld verloren, zog also nicht hinein in sein Lambert. Das Lambert blieb Sehnsucht.
Daß Diego sich vorstellen konnte, sein Feund Karl werde den Kauf des Hôtel Lambert finanzieren, hatte Karl elektrisiert. So nah war Karl dem Hausheiligen Diegos noch nie gekommen. Sofort hatte er sich mit Voltaire beschäftigt. Weniger mit dessen Schriften als mit seinen Geschäften. Prozessierfreudig und geizig, las er, sei Voltaire gewesen. Karl wußte, wie Geistesmenschen, die von Geschäften nichts verstehen, über die Geldwelt dachten und mehr noch schrieben als dachten. Voltaire hat offenbar gern und oft Geld verliehen, am liebsten an hochstehende, vornehme Herren. Und gerade als er das Hôtel Lambert einrichten will, verliert er durch diesen Monsieur Michel dreißigtausend Livres, das wären heute einige Millionen. Voltaire reagierte dichterisch auf diesen gewaltigen Verlust. Das gefiel Karl. Er lernte die Zeilen auswendig, und als er das nächste Mal bei Diego war, zitierte er fröhlich drauflos:
Michel au nom de l’Éternel
Mit jadis le diable en déroute
Mais après cette banqueroute
Que le Diable emporte Michel.
Diego staunte. Und umarmte seinen Freund. Das war ein Augenblick der Freundschaft!
Also wurde Karl übermütig und sagte gleich auch noch seine Übersetzung des Voltaire-Gedichtes auf:
Michel, ganz eins mit seinem Gott,
Hat den Teufel Gott befohlen
Aber jetzt nach diesem Bankrott
Soll ihn der Teufel holen.
Diego dämpfte seine Begeisterung. Klar, Französisch konnte nur er. Das stimmte ja auch. Diego konnte alles besser. Es war seine Art, besser zu sein als andere. Diego hatte von Kindheit an anstrengungslos gelernt, sozusagen von selbst. Einmal hat er gesagt: Mit sechzehn hatte ich die Welt intus. Es gab keine europäische Sprache, die er nicht wenigstens verstand. Die wichtigeren beherrschte er ganz und gar. Das war zumindest der Eindruck, den er, ohne es zu beabsichtigen, machte.
Karl war in den Jahren, in denen man, wie es heißt, unbegrenzt lernfähig ist, für alles zu begeistern gewesen, bloß nicht fürs Lernen. Von der Schule geflohen, mit einer Banklehre bestraft, als Betriebswirt ein Jahr Sparkassenakademie in Bonn, erste Freiheitsahnungen, allmähliche Dämmerung einer Ichtendenz. Von Diego entdeckt. Karl war eine Verehrungsbegabung. Und Diego brauchte Verehrung. Ihm wurde keine Verehrung zuviel. Karl glaubte, daß Diego keine Distanz zu sich selber kenne. Diego war immer ganz ausgefüllt von sich selbst. Karl hatte das Gefühl, er fülle sich selbst nie ganz aus. Er war nicht ohne Selbstgefühl. Aber dieses Selbstgefühl enthielt auch eine deutliche Portion Leere. Die er zu füllen hatte. Mit sich. Diesen Einhorn-Tisch mit dem Frauentorso hätte Karl, wäre er in eine vergleichbare Finanzlage geraten, nicht gekauft. Diego hatte Gundi nicht sagen können, was er dafür bezahlt hatte, das hieß, der Tisch war zu teuer.
Karl saß und überließ sich sich selbst. Immer angeschaut von den vielen dunklen Augen der honigfarbenen Bretter.
Aber Leonie von Beulwitzen wollte nicht, daß er sich sich selbst überließ. Eigentlich war ihr Telefontermin erst übermorgen, da allerdings — das war ihr Privileg — zu jeder Tageszeit. Kennengelernt im Bonsai-Neuschwanstein, immer wieder dort getroffen, ihr damaliger Mann, ein von der ganzen Welt bewunderter Chirurg, war Diegos Kunde, nach der Scheidung von Leonie kam der nicht mehr, Leonie kam immer noch, mußte mit den Gewinnen aus drei Scheidungen etwas anfangen, Karl von Kahn bot sich als Finanzdienstleister an, entdeckte in ihr, die laut Amadeus nur eine Scheidungsgewinnlerin sein sollte, ein Anleger-Talent, das entwickelte er, sie selber ließ wissen, sie habe sich dreimal präventiv scheiden lassen. Leonie von Beulwitzen konnte anrufen zu jeder Zeit. Karl ließ sich die Freude über Leonies Lerneifer nicht trüben. Bei Leonie von Beulwitzen kam es darauf an, daß sie alles so erlebte, als entscheide sie selber und allein. Sie hatte inzwischen das Handelsblatt abonniert und rief an, wenn sie etwas, das ihr wichtig vorkam, nicht verstand. Oder sie schrieb. Schrieb auf einem Briefpapier, auf dem zu lesen war: MA Leonie von Beulwitzen. Magister of Art war sie also. Und das schrieb sie vor den Namen. Sie hatte eine hohe Stimme, redete einem mit ihrem selbstbewußten Schwäbisch gern in die Sätze hinein. Diesmal wollte sie wissen, ob Karl von Kahn gelesen habe, was heute über Joseph Granville und von Joseph Granville in der Zeitung stand.