Jetzt lag der also da, der Freund. Gelähmt.
Karl sagte vor sich hin: Siehst du, Lambert, gleich neun, so früh hat Gundi noch nie angerufen. Daß sie noch vor halb neun anrief, hieß, sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen, halbneun, das war für Gundis Lebensart kurz nach Mitternacht, und ich, lieber Lambert, hätte keine Minute länger mit ihr telefonieren können, weil ich immer am Montag um neun Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel anzurufen habe, so geht das dann, lieber Lambert, unsere Lebensarten haben sich auseinanderentwickelt, weil ich mich ab sieben um die Kurse kümmere, kümmern muß, lieber Lambert. Verzeih. Bitte.
Er wußte nicht, wie er es anfangen sollte, wegzudenken vom bewegungsunfähigen Freund. Durch dieses elende Daliegen war ihm der Freund plötzlich so nah, wie er schon lange nicht mehr gewesen war.
Er wählte Amei Varnbühler-Bülow-Wachtels Nummer. Die kannte er auswendig. Jede Zahl mußte gegen einen Widerstand gewählt werden.
Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel war schon vor fünfundzwanzig Jahren dreifache Witwe gewesen. Karl von Kahn hatte noch bei der Hypo gearbeitet, zuständig für das Privatkundengeschäft, und wäre vielleicht bis zur Pensionierung eine Hypo-Nummer geblieben, hätte nicht eines Tages der Baron Ratterer, auch ein Kunde, für den Karl zuständig gewesen war, zu ihm gesagt: Wenn Sie in einer solchen Hierarchie verdorren wollen, hätten Sie gleich Pfarrer werden können. Karl sagte dem Baron, sollte der sein Depot statt der Hypo ihm anvertrauen, werde er kündigen und selber eine Firma aufmachen. Schließlich folgten ihm sieben Kunden, die er jahrelang hingebungsvoll gepflegt und reicher gemacht hatte, als sie schon waren. Mit sieben Kunden, die zusammen für Anlagen von fünfzig bis siebzig Millionen sorgen, kann man eine Firma gründen. Aber wenn schon im zweiten Jahr drei von diesen sieben Kunden wegsterben und deren Angelegtes von ebenso hilflosen wie gierigen Erben vertan wird — und Baron Ratterer war einer dieser Gestorbenen — und wenn noch ein betrügerischer Bankrott das Depot des potentesten Kunden dem Staatsanwalt ausliefert, dann starrt man nachts zur Decke. Ohne die dreifache Witwe Amei, ohne den musikalischen Physiker Professor Schertenleib und ohne die dreimal geschiedene Magistra Leonie von Beulwitzen wäre er untergegangen. Wahrscheinlich. Vielleicht. Keinesfalls. Unterzugehen kann er sich nicht leisten. Er ist zum Nichtuntergehen verurteilt.
Der Neun-Uhr-Anruf am Montag war ein Ritual. Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel meldete sich mit allen drei Namen plus Vornamen, wie sie sich immer meldete, nämlich in einer mit jedem Namen aufwärtssteigenden Melodie, so daß die Schlußsilbe von Wachtel klang, als schreibe man das mit zwei — l-. Karl von Kahn antwortete mit seiner Namensmelodie, die so deutlich nach unten führte wie die der Kundin aufwärts.
Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel war seine älteste Kundin überhaupt. Da sie selber gegen den Alterszucker kämpfte, war sie interessiert an Anlagen im Pharmafeld. Sie wollte immer genau informiert werden über die Produkte der Firma, deren Aktien sie kaufen sollte. Karl hatte, auch wenn gewisse Formulierungen Pflicht waren, an jedem Montag Substanz zu bieten. Montag ist Spieltag. Sie will ihre Geschäftsentscheidungen verstanden wissen als Spielzüge. Ihr zuliebe hatte Karl in einer der letzten Nummern seiner Kunden-Post einen Artikel geschrieben über das, was in der Branche Nachhaltigkeit genannt wurde. Das war das Hauptwort der Branchen-Ethik. Immerhin hatten die sonst der anglo-amerikanischen Prägekraft eher willenlos ausgelieferten Jargonschöpfer diesmal zu einem konkurrenzfähigen deutschen Wort gefunden.
Karls Artikel war eine Hommage an Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel. Ein Kompliment für den die Folgen bedenkenden Anleger. Er hatte allerdings, da er auch ganz andere Kunden hatte, das Gegenteil genauso gelten lassen müssen. Aber Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel fand, er habe sie und ihre Politik und Ethik bevorzugt. Das hatte er nicht, aber er war froh, daß sie das so verstand.
Heute hat er der Gnädigen Frau einen Kauf zu empfehlen, der geschaffen ist für sie. Wir greifen, wenn Sie mir folgen möchten, jetzt zu. Paion, die Bio-Tech-Firma, die sich neulich so unbeholfen an die Börse gewagt hat. Er hat den stotternden Start für Sie beobachtet. Der Einstiegskurs wurde dreimal gesenkt, zuerst sollte die Aktie vierzehn kosten, dann zwölf, dann zehn, jetzt also acht. Jetzt wären wir, wenn Sie wollen, dabei. Entwickelt wird ein blutgerinnsellösendes Medikament, dessen Wirkstoff aus dem Speichel einer südamerikanischen Fledermaus stammt, das dann aber gentechnisch produziert wird und Schlaganfallpatienten dramatisch schnell rettet.
Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel ließ sich dazu bewegen, dabeizusein. Ist notiert, sagte sie, morgen hören Sie von mir, an wieviel denken Sie?
Fünfzigtausend, sagte Karl von Kahn und sprach die Zahl, wie es zum Ritual beziehungsweise Spiel gehörte, so leichthin, als sei das nichts.
Wenn ich einsteige, sagte sie und wiederholte rituell, wenn ich einsteige, schlage ich die Finanzierung vor.
Sie schlug immer die Finanzierung vor. Diesmal hieß das, sie wollte die Finanzierung aus ihrem Schering-Portfolio herübergeholt wissen, weil sie in der Süddeutschen gelesen hatte, Schering sei mit Yasmin und Mirena zum Weltmarktführer bei den Verhütungsmitteln aufgestiegen. Da wollte sie nicht mehr dabeisein. Das konnte ihr Karl nur mit einer Einschränkung zusagen. Er werde ihre Schering-Aktien erst verkaufen, wenn sich die gerade vom Schering-Chef verkündeten Rekordergebnisse und die dazu gelieferte Zukunftsvision, daß nämlich von jetzt an der Gewinn stärker wachsen solle als der Umsatz, in einer Kurssteigerung bemerkbar gemacht haben wird. Da es dann aber für den günstigen Einstiegskurs bei Paion zu spät sein könne, werde er den Einstieg für die Gnädige Frau mit deren Erlaubnis per Kredit finanzieren. Kredite lungerten ja zur Zeit auf dem Markt herum und bettelten förmlich darum, aufgenommen zu werden. Da er aber immer das ganze Portfolio der Gnädigen Frau im Blick habe, und er möchte es lieber ein Anlagen-Gewächshaus nennen als ein Portfolio, könnte er ihr auch vorschlagen, den Einstieg bei Paion mit dem Verkauf von Puma-Werten zu finanzieren. Zwei Gründe dafür: Heute morgen die Meldung, Puma kauft weiter eigene Aktien zurück, für weitere hundert Millionen Euro, das heißt, die Puma-Aktien werden steigen. Zweitens: Puma-Papiere wirken im Werte-Gewächshaus der Gnädigen Frau eher fremd.